Da ist es – das Kalenderblatt Mai 2012:
Das Kalenderblatt für den Monat Mai 2012 präsentiert einen Ausschnitt aus „I’m going to …“, einer von zwei Arbeiten aus dem Jahr 2011, mit der Rita Merten an der von mir organisierten Ausstellung „Textile News: Freiheit“ teilnimmt. Sie wählte die Farbe Grün als Farbe der Hoffnung und des Antriebs: Signale geben, um Leben und Liebe sowie Autonomie (Freiheit) zu finden.
I’m going to …
Rita schichtet hier Mull auf Baumwollstoff und näht, quiltet und stickt frei mit der Maschine. Die in die ca. 20 x 20 cm grosse Arbeit eingestickten Zeichen erinnern an eine Bilderschrift, die über dem Raster und dem Mull wie über einer Wolkendecke zu schweben scheint. Die Transparenz des Mulls lässt Darunterliegendes ahnen. Trotz der freien Stellen ist die Wirkung nicht eindeutig und bleibt rätselhaft. Die geschwungenen Linien sorgen über dem Raster für eine weitere, kontrastierend-dynamische Gliederung und führen das Auge über die Arbeit. Diese Schwünge kommen aus dem Nichts und verweisen auf verschiedene Bilder wie das Herz und den (Kuss-)mund – Symbole für die Liebe und das Leben?
Rita Merten
Rita Merten lebt in Sarmenstorf im Kanton Aargau in der Schweiz. Sie ist mit Elisabeth Graf, die wir vom März-Kalenderblatt her ja schon kennen, befreundet. Ich traf die beiden Künstlerinnen samt ihren Familien bei der Ausstellungseröffnung von „Text und Textil“, ich erinnere an meinen Bericht über die Stiftung Schloss Biberstein und Manuel, den zeichnenden Sohn mit Handicap. Rita wünschte sich ihr Portrait ebenfalls in Interviewform. Aber gerne!
Gudrun: Du bist Autodidaktin?
Rita: Nähen habe ich eigentlich zu Hause bei meinen Eltern gelernt. Ich hab lange Zeit für eine bekannte ‚Guggenmusik‘ Fasnachtskleider genäht. Die Grundkenntnisse des Patchworks und des Quiltens habe ich mir in verschiedenen Kursen angeeignet und durch stetiges Probieren weiterentwickelt. (Workshops bei Irmi Hirzel, Rosmarie Artmann, Dörte Bach, Dorle Stern-Straeter, Aranka Nemeth und Michel James, Schule für Gestaltung etc.)
Nach einer gewissen Zeit habe ich mich von den traditionellen Techniken, Formen und Grundmustern entfernt und habe eigene Vorgehensweisen und Techniken zur Verarbeitung von neuen Materialen wie Papier und vor allem Plastik entwickelt.
Modern Amish, 100 x 100cm (2004)
Gudrun: Du bist Technische Zeichnerin. Gibt es Elemente oder Einflüsse, die Dir halfen dahin zu kommen, wo Du heute stehst?
Rita: Schon früh als Kind habe ich viel gemalt und gezeichnet. Viele Malkurse haben meine Jugend- und Ausbildungszeit begleitet. Meine Ausbildung und Tätigkeit als technische Zeichnerin haben mein Vorstellungsvermögen, den Blick für das Einteilen, meine Genauigkeit, meine Ausdauer und den Sinn für Struktur und Muster geprägt.
Samba melancholica, 100 x 100 cm (2006), ist ganz aus Seide.
Gudrun: Wo findest Du Deine Ideen, was inspiriert Dich?
Rita: Ich gehe mit offenen Augen durch Natur, Städte und ihre Strassen. Oft sehe ich, sei es an einer verwitterten Hauswand, an einer alten Ölwanne, in der herbstlichen Farbenpracht irgendeine Situation, die in mir eine intuitive Idee auslöst. Ich blättere gerne in Fachbüchern, Katalogen und wieder interessiert mich ein Element, eine Technik und gibt mir Anlass, neue Strukturen, Muster, Formen, Farben und deren Kombinationen auszuprobieren. Oft entstehen auch aus meinen gefertigten Werken weitere Ideen, die weiterentwickelt werden.
Autumn Leaves, ca. 210 x 200 cm (2011) wurde bei der Ausstellung „Von Schweden bis Israel“ in Karlsruhe 2011 gezeigt.
Gudrun: Du arbeitest mit Abfallprodukten – welche sind das, welche Idee steckt dahinter? Verfolgst Du dabei bestimmte Ziele?
Plastic circle, 100 x 100 cm (2010). Die Vorderseite besteht komplett aus Plastik, die Rückseite aus Stoff, dazwischen eine normale Wattierung.
Rita: Grundsätzlich faszinierte mich erst die Idee, aus Stoffresten wunderschöne Decken zu fertigen, also einem neuen Zweck zuzuführen. Auf der anderen Seite, selbst in einem Land, welches die Armut kennt (Argentinien), aufgewachsen zu sein und konfrontiert zu werden mit der Sorglosigkeit und Wegwerfmentalität, macht es mir Freude, den Versuch zu unternehmen, gewisse Produkte wiederzuverwerten und zu bearbeiten. Ein Ziel ist es natürlich auch, damit etwas Spezielles und Individuelles im Bereich der Textilkunst zu schaffen.
Plastic circle, Detail
Gudrun: Wie ich Deiner Website entnehme, entwickelst Du auch eigene Verarbeitungsmethoden. Möchtest Du dazu etwas verraten?
Rita: Nein. Probieren geht über Studieren!
Plastic trees, 100 x 100 cm (2009) wurde bei der Quilttriennale 2009 in Heidelberg ausgestellt. Das Top besteht komplett aus Plastik.
Plastic trees, Detail
Gudrun: Hast Du bevorzugte Themen, denen Du Deine Arbeiten widmest?
Rita: Kombination von Farben, Formen, Mustern und Strukturen. Der sich wiederholende Effekt.
Structure black, green, red, Detail
Gudrun: Hast Du eine bevorzugte Farbpalette?
Rita: Habe gerne warme Farben, vor allem Rot. Ich liebe es, mit allen Farben zu spielen und ein Gesamtbild zu ‚malen‘.
Structure black, green, red, ca. 220 x 210 cm (2011)
Gudrun: Färbst Du Deine Stoffe selbst?
Rita: Nein. Ausprobiert ja, aber dies auch selbst zu tun, frisst mir wichtige Zeit. Also besorge ich, wenn ich’s brauche, mir dies bei erfahrenen Personen.
Structure black, green, red in der Ausstellung in Karlsruhe 2011.
Gudrun: Wie entscheidest Du, welche Technik Du für die Umsetzung eines bestimmten Themas einsetzt?
Beautiful vision, 150 x 150 cm (2007) gewann den 2. Preis (Quiltmania) beim Wettbewerb in Ste Marie-aux-Mines (F)
Rita: Vieles entsteht natürlich, da ich an vielen Wettbewerben mitmache. Erst der Entscheid was will ich machen, dann die Technik. Grundsätzlich will ich aber meinem Stil treu bleiben. Meist sind es spontane Entscheide.
Herbst im Tessin, 100 x 50 cm (2008) wurde beim Wettbewerb Quilt Art Lugano (2008) mit dem 3. Preis ausgezeichnet.
Gudrun: Dein künstlerisches Statement in Kürze?
Red Stripes, Detail
Rita: Kreativität mit Stoff, Papier …
– Spannungsvolle Mixturen von vernähten, bestickten und gemalten Elementen
– Experimentierfreudige Spielereien mit Tradition, Veränderung, Zufall und Innovation durch die Verbindung verschiedener Materialen und neuen Methoden
– Emotionale Auseinandersetzung mit Design, Struktur, Farbe und Material.
Red Stripes, 4 mal 150 x 20 cm (2010)
Ein Grossteil meiner verwendeten Stoffe und Materialien sind Abfallprodukte, Reststoffe, Zeitungen und Zeitschriften, Plastiktaschen etc., die sich eignen, mit unterschiedlichen Techniken weiter oder wieder verwendet zu werden. In diesem Sinne ist meine Kunst eine Form von ‚Recyclingkunst.’
El misterio de las plumas negras, 100 x 100 cm (2008) nahm an der Wettbewerbsausstellung in Ste Marie-aux-Mines teil. Das beeindruckende Stück besteht aus antikem Leinen, Federn und Baumwolle und wurde mit Seidencordonnet bestickt
El misterio de las plumas negras, Detail
Gudrun: Welche (Näh-)Maschine(n) benutzt Du?
Rita: Ich liebe Bernina, habe aber auch eine Pfaff, weil der Obertransporteur schon integriert ist, das vereinfacht das genaue Arbeiten.
El misterio de las plumas negras, detail
Gudrun: Verkaufst Du Deine Arbeiten?
Rita: Liebend gerne.
Gudrun: Dein Workshopangebot ist was Besonderes. Was kann man sich vorstellen?
Passion ostinato, 110 x 120 cm (2008), Ausstellung Vernier
Rita: Es sind Workshops für Fortgeschrittene: Die Teilnehmerinnen experimentieren mit verschiedenen Materialien. Sie setzen erlernte Grundlagentechniken und traditionelle Quiltmuster kreativ um, verfremden und erweitern sie und schaffen so neue Strukturen und Formen. Sie erkennen die eigene Kreativität als Stil- und Gestaltungsmittel und erarbeiten, mit Mut für neue Farbkombinationen und Designmuster, aussagekräftige Werke.
Passion ostinato, Detail
Methode:
Die Vorgabe einer Idee, eines bestimmten Materials, eines Symbols, eines Bildes, eines Gefühls soll zum inneren Anstoss werden, um die eigene Kreativität zu entfalten, neue Methoden zu erproben und in eine künstlerische Arbeit umzusetzen.
Als Workshopleiterin verstehe ich mich in der Rolle als Begleiterin (Coach) eines kreativen Prozesses in anregender Atelieratmosphäre. Durch fachliche und methodische Beratung, durch vielseitiges Anschauungsmaterial und gestalterische Anregungen unterstütze ich die Arbeitsprozesse, wenn nötig bis zum fertigen Produkt.
Gudrun: Deine nächste(n) Ausstellung(en)?
Rita: Die letzte Ausstellung habe ich gerade hinter mir, „Text und Textil“ auf Schloss Biberstein.
Himmelsleiter, Detail (2012), nach einer Zeichnung von Mauel Merten.
Der Schwerpunkt war ein Projekt, in dem Elisabeth Graf und ich Zeichnungen meines behinderten Sohnes in textile Werke umgesetzt haben.
Farbfantasie, Detail (2012), nach Manuel Merten.
Eine nächste Ausstellung ist noch nicht geplant. Zwei Werke werden in den Schulungsräumen der Fachschule für Gesundheit präsentiert. (Vorstellung einer Künstlerin während eines Jahres.) Sonst bin ich gegenwärtig kreativ aktiv.
Remember the fifty, 100 x 100 cm (2009). Die Vorderseite besteht aus Papier, die Rückseite aus Stoff und eine gebräuchliche Wattierung befindet sich zwischen den Lagen.
Gudrun: Wo siehst Du Dich und Deine künstlerische Arbeit in, sagen wir mal 2 – 5 Jahren?
Rita: Schwierig. Kreativität lässt sich schwer planen, ist aber eine Grundtriebfeder für mich. Zudem ist immer die Gesundheit ein wichtiges Element. Auch ist es eine Frage des Marktes und der Hoffnung, ob den diversen Juryexpertinnen meine Kreationen gefallen.
Durchbruch, 130 x 84 cm (2009) ist eine Arbeit von Dir, die mir in der EXNA 4-Ausstellung 2010 in Neuchatel auffiel. Sie ist ganz aus Stoff, aber aus unterschiedlichen Qualitäten (Baumwolle, Chiffon, Tüll) gefertigt und teils mit Acrylfarbe bemalt.
Gudrun: Mal angenommen, Du hättest einen Tag / ein paar Tage / ein paar Wochen lang nichts zu tun und Zeit. Was würdest Du tun?
Rita: Ganz einfach kreativ sein. Das Wort „nichts zu tun“ kenne ich nicht.
Gudrun: Irgendetwas, was ich vergessen habe?
Rita: Nein.
Durchbruch, Detail.
Auf der Detailaufnahme kann man einige der Applikationen erkennen, Figuren und Symbole, die ich beim zweiten Werk, mit dem Rita an der Ausstellung „Textile News: Freiheit teilnimmt, wiederentdeckte. Es trägt den Titel „Looking for freedom“. Die Künstlerin beschreibt ihr selbstgewähltes Thema mit dem Streben des Menschen nach Selbstbestimmung und Freiheit, Überwindung von Hindernissen und Grenzen als Aufgabe zwischen Leben – Liebe – Tod.
Die ca. 20 x 20 cm grosse Arbeit besteht aus Metallstoff, Satin und Chiffon, die Applikationen sind dicht an dicht frei geführt bestickt und gequiltet. Man begegnet hier auch wieder den Symbolen und Zeichen, diesen ganz eigenen Elementen ihrer Bildsprache. Im unteren Drittel dominiert die Farbe Rot und ein Quilting aus parallel geführten Linien. Das darin schwebende Herz schafft die Verbindung zum oberen, durch den dunklen Hintergrund eigentlich schwerer wirkenden Teil und vermittelt Leichtigkeit, überwindet so Hindernisse und Grenzen.
Looking for freedom
Liebe Rita, es hat mir grosses Vergnügen gemacht, mit Dir zusammen dieses Künstlerinnenportrait zu erarbeiten und ich hoffe, dass es Dir gefällt! Merci vielmal!
Mehr Infos über Rita Merten: www.ritamerten.ch
Zu den von mir organisierten Wettbewerben, wie z.B. „Textile News“ oder „Textile News: Freiheit“ gibt es jeweils einen Ausstellungskatalog auf CD, der bei mir erworben werden kann: www.quiltsundmehr.de
Fotos:
Ausschnitte aus den Ausstellungs-CDs („I’m going to …“, „Looking for freedom“): Dr. Wolfgang Heinz,
„Durchbruch“ und Ausstellungsfotos: Gudrun Heinz,
alle anderen Aufnahmen freundlicherweise von der Künstlerin zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Zum Titelblatt 2012 – Gudrun Heinz (D): www.blog.bernina.com/de/2011/12/titelblatt-des-bernina-kalenders-2012/
Zum Kalenderblatt Januar 2012 – Martha Roggli (CH): www.blog.bernina.com/de/2012/01/januar-2012-im-bernina-kalender-2/
Zum Kalenderbaltt Februar 2012 – Ineke Berlyn (UK): www.blog.bernina.com/de/2012/02/februar-2012-im-bernina-kalender-2/
Zum Kalenderblatt März 2012 – Elisabeth Graf (CH): www.blog.bernina.com/de/2012/03/marz-2012-im-bernina-kalender-2/
Zum Kalenderblatt April 2012 – Lisette Haak (D): www.blog.bernina.com/de/2012/04/april-2012-im-bernina-kalender/
Zum Kalenderblatt Juni 2012 – Tatyana Ishkaraeva (RUS): https://blog.bernina.com/de/2012/06/juni-2012-im-bernina-kalender/
Zum Kalenderblatt Juli 2012 – Alicia Merrett (UK): https://blog.bernina.com/de/2012/07/juli-2012-im-bernina-kalender/
Zum Kalenderblatt August 2012 – Annakäthi Iseli-Gfeller (CH): www.blog.bernina.com/de/2012/08/august-2012-im-bernina-kalender-2/
Zum Kalenderblatt September 2012 – Frieda Oxenham (UK): www.blog.bernina.com/de/2012/09/september-2012-im-bernina-kalender-2/
Zum Kalenderblatt Oktober 2012 – Margaret Ramsay (UK): www.blog.bernina.com/de/2012/10/oktober-2012-im-bernina-kalender-2/
Zum Kalenderblatt November 2012 – Inga Sauciuniene (LT): www.blog.bernina.com/de/2012/11/november-2012-im-bernina-kalender-2/
Zum Kalenderblatt Dezember 2012 – Monika von Hörde (D): www.blog.bernina.com/de/2012/12/dezember-2012-im-bernina-kalender/
Gudrun, ohne deinen detailierten und (wie immer) sehr interessanten Bericht hätte ich glatt vergessen, meinen Kalender umzublättern. Jetzt kann ich Ritas Kunstwerk jeden Tag geniessen. Ich hoffe auch, dass wir in Zukunft mehr von Manuel sehen.
Lorchen
Liebe Gudrun, danke für das tolle Mai-Kalenderblatt, wie immer ein Augenschmaus.
Und an Rita Merten hiermit ein grosses Kompliment für ihre Arbeiten!
Mein Favorit nach einigem hoch- und runterscrollen: Las plumas negras….traumhaft zart, mit einer nicht nur bildlichen Tiefe.
Einen schönen Feiertag,
Jutta