Für unsere zahlreichen deutschen Leserinnen zunächst ein Witz zur Einführung in die Schweizer Politik: Die Primarschüler Fritzli und Hansli diskutieren, woher die Babys stammen. Ob der Storch sie bringe? Oder ob es sich mit dieser Sache verhalte wie mit den Bienen und den Blüten? Im Detail kenne er sich nicht aus, sagt Fritzli, aber eines wisse er ganz sicher, es sei von Kanton zu Kanton verschieden.
Note fünf bis sechs, müsste man aus heutiger Sicht urteilen (nach Schweizer Notensystem natürlich). Es ist nämlich nicht von Kanton zu Kanton verschieden, sondern von Gemeinde zu Gemeinde. Das gilt für den Steuerfuss, das Sozial- und Schulwesen, für die Müllentsorgung und selbst für den Winterdienst. Wer je frühmorgens über den Lenker seines Rades geflogen ist und dabei die seltsame örtliche Übereinstimmung von Gemeinde- und Schneegrenze erkennen durfte, weiss, was ich meine. Geleitet wird die Gemeinde von einem Gemeindepräsidenten, welcher “in der Regel eine herausgehobene Autoritätsposition” (Zitat des offiziellen eidgenössischen Portals www.ch.ch) innehat. Vielen Politikern dieses Amtes und Schlages gemeinsam ist eine heftige Allergie auf das Wort “Fusion”, insbesondere auf die “Gemeindefusion”.
Nun zur eigentlichen Geschichte: Am Donnerstagabend fanden sich 40 Ostschweizer Gemeindepräsidenten im Freihof in Gossau ein. Zu ihrer nicht geringen Überraschung trafen sie dort auf 20 Nähmaschinen des Typs BERNINA aurora 430, an denen sie ihre kommunale Autonomie für die Dauer einer Stunde aufgeben und in Zusammenarbeit mit einem Amtskollegen vier Tücher im Format von ca. 1,40×1,40m zu einem BIGNIK-Modul zusammennähen sollten. An dieser Stelle hatten wir bereits ausführlich über BIGNIK berichtet. Eingeladen nach Gossau hatte der Verein “Region Appenzell AR – St. Gallen – Bodensee”, Initiant des BIGNIK-Projektes, unter dem Vorwand einer ordentlichen Mitgliederversammlung und selbstverständlich ohne Hinweis auf die geplante Näharbeit. Von einer gewissen Perfidie zeugt auch die Wahl des Versammlungsortes: Der Freihof in Gossau ist eine Brauerei mit Gaststube, dessen Besitzer sein Lokal unter Berufung auf mittelalterliches Recht zum Freistaat ausgerufen hat. Hier herrscht der Geist der Freiheit. Entsprechend zahlreich kamen die Exekutivpolitiker.
Es sollten also Gemeindepräsidenten auf ihre Näh- und Nähmaschinen auf ihre Gemeindepräsidententauglichkeit überprüft werden. Das Egebnis sei vorweggenommen: Sowohl die einen als auch die anderen haben bestanden. Nach leicht chaotischem Start (häufigste Frage: “Wo ist der Rückwärtsgang?”), traten die Volksverteter kräftig auf die Fusspedale, folgten der Leitplanke des Kantenlineals, zeigten sich dabei geradlinig, waren andererseits zu Spitzkehren fähig, bewiesen ihre Konkordanzfähigkeit beim Zusammenlegen der Tücher, und lieferten schliesslich termingerecht ihren rund sieben Quadratmeter grossen Beitrag zur BIGNIK-Vision ab.
Aber der Reihe nach: Um ungefähr 16.00 Uhr ist das Team der BERNINA Schweiz AG vor Ort, verstärkt durch zwei Personen der St. Galler König AG, und beginnt mit dem Aufbau:
Gut lachen hat, wer die Traktandenliste jetzt schon kennt. Unten im Bild: René Uebelhart, Geschäftsleiter der BERNINA Schweiz AG. Ihm kommt später die Aufgabe zu, die vierzig Politiker an die Maschinen zu bitten. Sein Mitgefühl ist offensichtlich.
Alles bereit, jetzt fehlt nur noch das arglose Nähpersonal.
Zunächst trifft das Schweizer Fernsehen ein. Weissabgleich mit einer Dokumentenmappe von BERNINA:
Bald danach kommen die Gäste. Mit schwarzer Krawatte: Thomas Scheitlin, Stadtpräsident St. Gallen. Mit grüner Strickmütze: Patrik Riklin von den Gebrüdern Riklin, die sich mit der Erfindung des Nullsternehotels einen Namen gemacht und das BIGNIK-Projekt ins Leben gerufen haben. Oder ist es sein Zwillingsbruder Frank?
Es geht los. Unter strenger Beobachtung durch Medien und BERNINA Personal nehmen die Bigniker ihre Plätze an den Nähmaschinen ein. Das eine oder andere zuversichtliche Lächeln mag als Pfeifen im Walde gedeutet werden.
Bald haben sich die Gemeindepräsidenten in die Materie eingearbeitet und beweisen Dossierfestigkeit, etwa beim Güfelen (schweiz. für “mit Stecknadeln zusammenheften”).
… aber auch beim hochkonzentrierten Nähen (Vorsicht, Krawatte!):
Thomas Scheitlin, der bei einem BIGNIK-Anlass in St. Gallen bereits Nähexekutiverfahrung sammeln konnte, steht einer Kollegin beratend zur Seite.
Der unten abgebildete orange Stoff war einst ein Vorhang und zierte eine Gemeindekanzlei. Hier wird er auf fachmännische Weise und nach dem Kollegialitätsprinzip zu einem Picknicktuch verarbeitet. Durch sein Fehlen am alten Ort sorgt er für frischen Wind und mehr Durchblick. Auch das ist BIGNIK.
Die Qualität der Arbeit ist durchgehend hoch. Nur selten greift das BERNINA Personal zum Mittel der Interpellation und unterbricht die Arbeit. Etwa in diesem Fall:
So geht rückwärtsnähen: Renate Sommer von der BERNINA Schweiz AG sorgt mit dem Pfeiltrenner dafür, dass auseinanderkommt, was nicht zusammengehört.
Die Session neigt sich dem Ende zu.
Nun heisst es, den Medien Rede und Antwort stehen und dem Stimmbürger Rechenschaft ablegen über das Geleistete.
Das ist nicht wenig. Hier die ersten fertigen BIGNIK-Module. Der Stapel wächst im Verlauf des Abends auf die dreifache Höhe an.
Diese drei Herren erweisen sich als besonders zukunftsorientiert. Sie überspringen die Projektstufe “Nähen” und wenden sich ohne Umschweife dem Projektzweck “Picknick” zu.
Gegen den Vorwurf der Nähverweigerung verwahren sie sich entschieden. Sie seien keine Gemeindepräsidenten und wollten diesen nicht im Lichte stehen. Später hört man von zwei anderen Herren, die sich während der Nähstunde zur Klausur in die Braustube des Freihofs zurückgezogen hatten. Ob aus ähnlich edlen Motiven wie die Gruppe oben, ist nicht bekannt.
Sicher ist dies: Das Ziel des Abends wurde erreicht. Mit 20 fertigen Modulen ist das BIGNIK-Tuch um rund 150 Qadratmeter gewachsen. Und: Der Funke ist gesprungen, die Politiker waren mit grosser Begeisterung bei der Sache, haben BIGNIK hautnah erlebt und Spass daran gefunden.
Weiter geht es im Januar. Dann sollen bei einem Nähfestival in St. Gallen während dreier Tage fünfzig BERNINA Nähmaschinen im Dauerbetrieb stehen. Noch sind Plätze frei. Wer Lust hat, an diesem sympathisch-verrückten Projekt mitzuwirken, kann seine Maschine hier reservieren. Wir freuen uns über jede Anmeldung! Mit politischer Unterstützung darf gerechnet werden. Fünf Gemeinderäte, die selbsternannten BIG Five, haben sich in Gossau zur Teilnahme am Nähfestival in St. Gallen entschlossen.
Das Projekt zieht ja große Kreise und der Spaßfaktor scheint entsprechend hoch!
Nähen verbindet eben doch.
Gruß Maria
Kann mich Ursula nur anschliessen:
einfach herrlich! Und bei “Vorsicht Kravatte” habe ich so laut lachen müssen, dass hier die halbe Familie erwachte…. wer mein Lachen kennt, weiss warum 😉
Ein grossartiges unbedarftes Gewusel und ein so kreatives Zusammenarbeiten, wie man es sich oft in der Politik wünschen würde!
Schönes Wochenende,
Jutta
Herrlich!
Nicht nur ein tolles Projekt, sondern auch köstlich erzählt. Als Gemeinderätin kommen mir da ganz eigene “subversive” Gedanken …
Viele Grüße
Ursula