
Ausstellungsplakat
Basierend auf Schiesser-Flechttrikot Damen; Baumwolle, gewirkt; um 1900
Haus der Geschichte Baden-Württemberg / Simone Leitenberger
Unterwäsche ist mehr als ein Kleidungsstück: Was Textilien aus drei Jahrhunderten über gesellschaftliche Trends, Moden und technische Erfindungen ihrer Zeit sagen, davon handelt die Sonderausstellung ‘AUF NACKTER HAUT – Leib. Wäsche. Träume.’ im Haus der Geschichte Baden-Württemberg. Noch bis zum 31. Januar 2016 machen 418 Exponate auf 500 Quadratmetern Ausstellungsfläche in dem Stuttgarter Museum einen Teil der Kultur- und Wirtschaftsgeschichte Südwestdeutschlands wieder lebendig.

Schiesser-Slip Herren ‘Sven’; Baumwolle, Feinripp; um 1965
Foto: Haus der Geschichte Baden-Württemberg / Noshe
‘Eine Zeit und eine Gesellschaft spiegeln sich nicht nur in grossen Staatsaktionen. Manchmal verrät der Blick darunter mehr über die jeweilige Epoche, wie unsere Ausstellung eindrucksvoll zeigt’, so Museumsleiter Dr. Thomas Schnabel. Unterwäsche als Dokument der Zeit, in der sie entsteht und getragen wird, sagt nicht nur viel über die sie tragenden Menschen aus, sondern ist auch Teil einer Kulturgeschichte im Spannungsfeld von gesellschaftlichen Trends, Moden und technischen Erfindungen. Der sog. Rundwirkstuhl, der Anfang des 19. Jahrhunderts in Frankreich erfunden und stetig verbessert wurde, war die entscheidende Maschine für die Fertigung der Textilien in grossen Stückzahlen und so beginnt vor rund 150 Jahren die industrielle Produktion von Unterwäsche in Württemberg und Baden.
Garne unterschiedlichster Qualität konnten auf den neuen Maschinen zu langen elastischen Schläuchen gewirkt werden. Die Wirkwaren waren in ihrer Zeit auch deshalb revolutionär, weil sie fertig konfektioniert in den Handel kamen: Unternehmen wie Wilhelm Benger Söhne und Schiesser schnitten ihre Wirkwaren zu und nähten sie auf den ersten Nähmaschinen zusammen. Diese preiswerten Massenprodukte verdrängten die traditionelle, oft noch in Heimarbeit hergestellte Leinenwäsche und setzten sich zuerst beim Militär (seit 1860) und bei der männlichen Bevölkerung durch. In den Warenhäusern des 19. Jahrhunderts wurden sie in verschiedenen Grössen und Farben in eigens eingerichteten Abteilungen angeboten und auch beworben.
Um 1900 war das ‘Drunter’ – lange, einfarbige, teilweise verzierte Trikots und Unterhosen – zwar noch längst kein Gegenstand öffentlicher Zurschaustellung.
Aber intensiv diskutiert wurde damals über gesunde Leibwäsche. Sowohl medizinisch als auch weltanschaulich: wetter- und seuchenfeste Wolle, locker fallende Leinen oder atmungsaktive Abhärtungswäsche?
Zum Modeobjekt entwickelte sich Unterwäsche in den 1920er Jahren: Filme und Magazine verbreiteten das Idealbild der schlanken Linie, von Jugendlichkeit und Sportlichkeit.
Die weibliche Unterkleidung wurde reizvoller. Schlank und sportlich ging es auch im nächsten Jahrzehnt weiter – allerdings im Gleichschritt. Die Nationalsozialisten bestimmten industrielle Trends zentral: Wettkampfmode und, aus Rohstoffmangel, chemisch hergestellte Viskose.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verhalf eine feminine und figurbetonte Damenmode in der Wirtschaftswunderzeit den Wäscheherstellern zu hohen Umsätzen.

Nur die Damenwäsche wird bunt und wird häufig aus Kunstfasern gefertigt – Stücke aus den 1950er und 1960er Jahren
Foto: Haus der Geschichte Baden-Württemberg / Sacha Dauphin
Bevor allerdings die Männer begannen, sich vom eintönigen weissen Fein- und Doppelripp zu verabschieden, verging noch mehr als ein Jahrzehnt. Farbig wurden ihre Unterhosen in den späten 1960er Jahren. Modische Schnitte folgten erst in den 1980ern.
Die Frauen gingen in dem Jahrzehnt deutlich weiter. Die Darstellungen in Fernsehserien wie ‘Dallas’ und ‘Denver Clan’ animierten zu regem Absatz hochwertiger Dessous. Und nach dem Vorbild der Videos von Madonna und anderer Popstars wurde Unterwäsche fortan auch öffentlich getragen – als Teil der Oberbekleidung.
Jede Generation hat ihre Unterwäsche. Jedes Material fühlt sich auf der nackten Haut anders an. Wie wer zur Unterwäsche stand und steht, ist immer auch eine Frage des Blickwinkels. ‘Die Ausstellung blickt auf das Thema vor allem aus der Perspektive beider Geschlechter, aber auch aus der unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen’, beschreibt Ausstellungsleiterin Prof. Dr. Paula Lutum-Lenger das Konzept.
Frühe Büstenhalter, klassischer Feinripp, reizvolle Spitze: Die Wäschestücke und Bademoden werden in der Ausstellung wie in einem grossen Schaufenster in die Vergangenheit präsentiert. Sie erzählen von Lebensreformbewegungen und Körperidealen, von Geschlechterrollen und Moralvorstellungen. Filmausschnitte zeigen, wie die intime Hülle Film und Werbung eroberte: Träume und Inszenierungen – ob athletisch-heroisch wie in Leni Riefenstahls Sequenzen aus der NS-Zeit oder erotisch wie etwa in Rolf Thieles ‘Das Mädchen Rosemarie’.
Vor allem Objekte aus den Produktarchiven der Hersteller Schiesser und Wilhelm Benger Söhne ermöglichen einen Überblick über all das, was meistens nicht sichtbar war und ist.
Jacques Schiesser (1848 – 1913), der vom Vater eine Weberei im Schweizer Kanton Glarus übernommen hatte, verlegte, um die wirtschaftlichen Vorteile der Zollunion im Deutschen Reich zu nutzen, den Betrieb 1875 nach Radolfzell am Bodensee. Dort mietete er zusammen mit seiner Frau Malwine den Tanzsaal eines Gasthauses, stellte dort neun handbetriebene Rundwirkstühle auf und legte damit den Grundstein für den Aufstieg des Unternehmens: Noch vor dem Ersten Weltkrieg wurde Schiesser zu einem der grössten Textilunternehmen Europas.

Modefotos, Werbung und Wäscheschachteln aus den 1920er und 1930er Jahren
Haus der Geschichte Baden-Württemberg / Sacha Dauphin
Der Strumpfwirker Wilhelm Benger (1818 – 1864) setzte als einer der ersten Fabrikanten den Rundwirkstuhl in der Produktion ein und richtete seine Produktpalette konsequent darauf aus. Bereits 1894 zählte das Unternehmen neben Schiesser zu den grössten der Branche und beschäftigte etwa tausend Mitarbeiter in Stuttgart und Bregenz.
Nachdem Schiesser 2009 Insolvenz beantragt hatte, gab der Insolvenzverwalter die komplette Musterkollektion der Traditionsfirma mit weit über 5000 Wäschestücken aus 135 Jahren als Leihgabe ans Haus der Geschichte.
‘Das Unternehmen entwickelte sich wieder günstig, und das Wäschearchiv konnte als Ganzes erhalten werden’, blickt Paula Lutum-Lenger zurück auf den ersten Schritt hin zur Ausstellung. Aber auch Triumph International AG und das Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg, Stuttgart, tragen als weitere Leihgeber zur Vielgestaltigkeit der Ausstellung bei.
Der Radolfzeller Wäscheproduzent Schiesser war ein zentraler Bestandteil einer einst boomenden Maschenindustrie. ‘Mehr als 100 Jahre prägte die Textil- und Bekleidungsindustrie in Baden, Württemberg und Hohenzollern die wirtschaftliche Entwicklung’, erklärt Thomas Schnabel. ‘Erst in den 1950er Jahren wurde sie vom Maschinen- und Fahrzeugbau abgelöst. Heute spielt sie bei Umsatz und Beschäftigung nur noch eine vergleichsweise geringe Rolle.’

Schaufensterfiguren aus den 1930er Jahren und Kleidung aus der NS-Zeit
Haus der Geschichte Baden-Württemberg / Sacha Dauphin
Aus den Maschinen kam im Lauf der Jahrzehnte auch manches, was aus heutiger Sicht kurios wirkt. Etwa Untertrikotagen für Frauen mit taschenartigen Einsätze für die Brüste, rosa Männerunterhosen, Badeanzüge aus Wolle, Wäsche aus Papier oder schweisstreibenden Kunststoffen. Die Ausstellung birgt zwischen dem ältesten Exponat – einem gewirkten Herren-Unterhemd aus Baumwolle aus der Zeit um 1884 – und dem aus dem Jahr 2015 stammenden jüngsten Ausstellungsstück so manche Überraschung.
Zur Ausstellung ist ein ausführlicher Katalog erhältlich.
***
Info:
22. Mai 2015 – 31. Januar 2016
AUF NACKTER HAUT – Leib. Wäsche. Träume.
Haus der Geschichte Baden-Württemberg
Konrad-Adenauer-Strasse 16
70173 Stuttgart
Öffnungszeiten:
Di – So: 10 – 18 Uhr
Do: 10 – 21 Uhr
www.hdgbw.de/das-museum/besucherinformation
Infos und Fotos freundlicherweise vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg zur Verfügung gestellt – herzlichen Dank!
KÖSTLICH ;-). DANKE Gudrun. Schön, dass Du Dich da so eingearbeitet hast .
LG monika
gern geschehen, liebe monika. das haus der geschichte hat mich mit informationen sehr gut versorgt. man müsste nur noch etwas mehr zeit haben …
Hallo Gudrun,
Danke für die Fortbildung und Anregung zu weiterem Nachlesen:-) Hab noch etwas gegoogelt; vor allem die offenbar um 1900 stattgefundenen weltanschaulichen Diskussionen über das, was Unterwäsche leisten soll, sind aus heutiger Sicht spassig. Und dass die Fa. Triumph (war der Slogan nicht “krönt die Figur”?) auf der Ostalb gegründet wurde, war für mich neu und überraschend.
Liebes Grüßle Annette.
hallo annette,
vielen dank! und wenn man erst noch bedenkt, was frau um 1900 da alles und in welcher vorgeschriebenen reihenfolge anzuziehen hatte – ich zitiere aus dem ausstellungskatalog:
“1. Strümpfe, die mit einem Strumpfband gehalten oder mit Strapsen am Korsett befestigt wurden
2. Ein kniebedeckendes Beinkleid, das mit Bändern um die Taille gebunden wurde
3. Ein langes Unterhemd oder eine Untertaille
4. Ein Korsett, das über dem Unterhemd oder der Untertaille angezogen wurde
5. Ein Korsettschoner, der über dem Korsett zum Schutz des Kleides getragen wurde
6. Ein längerer Halbunterrock, der mit dem Bund am Korsett in der Nabelhöhe befestigt wurde
7. Ein Anstandsrock und darüber folgte der Rock oder das Kleid”
da waren doch gedanken an ‘reformen’ angebracht. man denke nur an pädagogik, ernährung usw. – oder die sog. ‘reformküchen’, die nichts mit der ernährung an sich, sondern mit der kücheneinrichtung zu hatten.
ein schönes wochenende
beste grüsse
gudrun
Hallo Gudrun,
der Korsettschoner hätte mir gerade noch gefehlt 🙂
Wäre spannend zu sehen, welche Reformen es in 150 Jahren gibt! Vielleicht von Wolke 7 aus 🙂
Dir auch ein schönes Wochenende und liebes Grüßle!
Interessanter Ein-und Rückblick! Vom Modell von 1930 bin ich inspiriert selbst einen Badeanzug in dem Stil zu nähen! 😀
Liebe Grüße Claudia
hallo claudia,
vielen dank! ich denke, dass alle modedesigner dann und wann einen blick in die historie werfen, um inspirationen für neue modelle zu bekommen. warum also nicht auch auf die bademode aus den 30er jahren? solange du keine wolle verwendest … es gibt da in unserer familie stories über selbstgestrickte badehosen, die sich dann als völlig untauglich erwiesen haben 🙂
ich bin gespannt auf ein eventuelles foto deiner creation!
beste grüsse
gudrun
Hallo Claudia,
aus eigener Erfahrung warne ich vor normalem Baumwolljersey und einfachen auch breiten Gummibändern! Meine Erfahrungen mit diesen Materialien haben mich vor ca. 40 Jahren davon abgehalten, weitere Bikinis selbst zu nähen, sofern ich damit schwimmen wollte. Die Elastizität des Jersey ohne Elasthan war in nassem Zustand = 0: Oberteil wäre ohne Nackenträger in der Taille gehängt, Hose hätte ich ohne festhalten verloren 🙂
Ich glaube, fest gestrickte Wolle wäre da noch geeigneter gewesen 🙂
Liebes Grüßle Annette.
na ja, ich denke, das 30er-jahre-design ist das eine, aber das andere sind unsere heutigen materialien …
Liebe Gudrun,
das ist ja wirklich seeeehr reizvoll ;-). Du hast dir wieder einmal eine verrückte Arbeit gemacht, mit den vielen Infos über die Geschichte der Leibwäsche.
Danke für die tolle Bildzusammenstellung.
Liebe Grüße,
Jutta
hallo liebe jutta,
vielen dank! ich dachte beim ersten hinsehen, naja, auch ein thema. aber bei näherer betrachtung hat sich die ‘leibwäsche’ – wie meine grossmütter diese textilien noch zu nennen pflegten – als sehr interessant und facettenreich herausgestellt.
ich kann mich noch erinnern – ich war da noch nicht in der schule, verbrachte aber dennoch sommerferien bei oma und tante in der kleinstadt – dass die frisch gewaschene wäsche auf der wiese in der sonne gebleicht wurde. auch ich hatte eine kindergiesskanne und begoss omas liebestöter immer wieder mit wasser. leider hatte sie die aber im vorgarten ausgebreitet, was zu einem riesenärger führte – denn sowas zeigte man in den 60er jahren nicht vor!
beste grüsse
gudrun