Wer ihn sucht, wird ihn auch finden: auf der Schale der Ananas, im Werk da Vincis, im Gesicht von Marilyn Monroe oder in der Architektur des Alten Rathauses Leipzig. Im Internet begegnet er uns in Katzenfotos oder der Aufnahme einer Prügelei im ukrainischen Parlament. Der Goldene Schnitt scheint allgegenwärtig – und tatsächlich geht von dem Proportionsverhältnis, das im 19. Jahrhundert zur universellen Konstante des Harmonischen erhoben wurde, eine ungebrochene Faszination aus. Steckt hinter allem Schönen also ein mathematisches Prinzip? Oder ist die angebliche Weltformel nur ein schöner Mythos?
Erstmals geht nun eine Ausstellung dem Phänomen aus verschiedenen Perspektiven auf den Grund. Multimedial und interaktiv erkundet ‘Göttlich Golden Genial. Weltformel Goldener Schnitt?’ noch bis zum 26. Februar 2017 im Museum für Kommunikation Berlin faszinierende Formwelten und hinterfragt kritisch Geschichte wie auch Anwendungen des Goldenen Schnitts. Von den geometrischen Grundlagen über die als Wachstumsmuster der Natur geltende Fibonacci-Folge bis zu Le Corbusiers Proportionssystem ‘Modulor’: Rund 250 Exponate aus Architektur, Kunst, Design, Natur und Musik zeigen, wie die ‘göttliche Teilung’ bei den verschiedensten Entstehungsprozessen funktioniert. Dass unsere Sehgewohnheiten auch durch Normungen geprägt werden, veranschaulichen alternative Formate wie das neuzeitliche DlN- oder das japanische Tatami-Mass.
Auf der Suche nach dem Goldenen Schnitt analysieren die Besucherinnen und Besucher mit einer goldenen Schablone Exponate, vergleichen eigene Gesichtszüge holografisch mit den Goldenen Proportionen, puzzeln goldene Flächen und spielen auf einer speziell für die Ausstellung konzipierten Orgel goldene Musik. Schliesslich tauchen sie ein in eine konsequent nach den Regeln des Goldenen Schnitts gestaltete virtuelle Realität. Ob diese das Versprechen ästhetischer Vollkommenheit einlösen kann?
Den Auftakt der Ausstellung bilden Objekte aus Kunst, Natur und Mathematik, an denen sich das Faszinosum ‘Goldener Schnitt’ entzündet. lm Arrangement einer ‘Wunderkammer’ treffen diese geheimnisvoll inszeniert aufeinander: Ein Turboschneckenhaus steht hier neben einem zwölfseitigen Zauberwürfel; zwischen goldener Ananas und Sonnenblumenblütenboden sitzt ein Kaninchen – und alle laden sie ein zur genaueren Betrachtung, zum Wundern und Staunen.
Der daran anschliessende ‘Goldene Weg’ führt die Besucherinnen und Besucher tiefer in die Welt des Goldenen Schnitts. Er lokalisiert die vermeintlichen Anfänge in der Antike, verfolgt die Entwicklung der mathematischen Formel, die zum Verhältnis 1 : 1,618… führt, und klärt zugleich über tradierte Fehlinterpretationen auf.
Ein besonderes Augenmerk gilt Kunst-Klassikern der Renaissance, hinter deren kompositorischer Ausgewogenheit gerne goldene Proportionen vermutet werden. So offenbaren Wackelbildversionen von Dürers ‘Selbstbildnis im Pelzrock’ oder da Vincis ‘Mona Lisa’ bei genauerem Hinsehen die vermuteten Kompositionslinien. Mit den Ausführungen des italienischen Mathematikers Luca Pacioli zur ‘divina proportione’, zur göttlichen Proportion, setzte in der Renaissance vielleicht eine erste umfangreiche Auseinandersetzung mit dem Goldenen Schnitt ein.
Vor allem die darin enthaltenen Illustrationen da Vincis inspirierten italienische wie deutsche Künstler und fanden als geometrische Körper Eingang in die lntarsien-, Fresken- und Buchkunst des 16. Jahrhunderts. Dies führt auch das älteste und zugleich wertvollste Exponat der Ausstellung eindrucksvoll vor Augen: ein klappbares, mit geometrischen Einlegearbeiten aus Obstbaumholz, Ebenholz, Elfenbein und Perlmutt verziertes Holzspielbrett für Mühle, Schach und den ‘Langen Puff’ (vor 1596).
Dass es zwischen Wachstumsmustern der Natur und dem Goldenen Schnitt einen Zusammenhang gibt, zeigt die Ausstellung unter anderem anhand einer gehäkelten Ananas, deren aufgestickte Zahlen auf die Fibonacci-Reihe verweisen. Bei dieser nach Leonardo da Pisa, genannt Fibonacci, benannten Reihe entsteht jede Zahl aus der Addition der beiden vorhergehenden Zahlen, also 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13 usw. Teilt man zwei benachbarte Fibonacci-Zahlen durch einander, ergibt sich eine Annäherung an Phi (1,618…), also den Goldenen Schnitt.
lm 19. Jahrhundert gelangte das Proportionsverhältnis ins Bewusstsein des gebildeten Bürgertums – und zwar nicht länger als mathematisches Phänomen, sondern als Weltformel für Schönheit und Ästhetik. Dies schlägt sich in der künstlerischen Praxis, vor allem aber in populären Abhandlungen dieser Zeit nieder: Neben Originalen der Maler Adolph von Menzel und Adolf Hölzel verdeutlicht in der Ausstellung eine Bildercollage die ‘Nachmesswut’ und zugleich die damalige Sehnsucht nach einer Formel, die alles zu fassen vermag.
Es wurde vermessen, was Flora und Fauna, Kunst und Architektur hergaben – ob Eichenblätter, Kuheuter, antike Statuen oder griechische Tempel. Um das Auffinden der Proportionen zu erleichtern, wurden Werkzeuge wie der Goldene Zirkel entwickelt. Den zeichnerischen Vermessungen der Vergangenheit stellt die Ausstellung mit Goldenen Spiralen versehene aktuelle Fotografien gegenüber, darunter auch den Schnappschuss aus der Siivesternacht 2015/16 in Manchester. Deren virale Verbreitung zeigt: Die Suche nach einer Weltformel hat auch im 21. Jahrhundert nicht an Reiz verloren.
Welche Bedeutung hat die Formel Goldener Schnitt nun aber in der Gestaltungspraxis? Diese Frage beleuchtet die Ausstellung im Bereich der ‘Werkschau’.
Hier können die Besucherinnen und Besucher an einer Werkbank zunächst eine Goldene-Schnitt-Schablone herstellen, mit der sich Objekte auf goldene Proportionsverhältnisse überprüfen lassen.
Ob Le Corbusiers Proportionssystem ‘Modulor’, ein Modell der Berliner St.-Canisius-Kirche, Jo Niemeyers kinetisches Objekt ‘Infinitiy’ oder der WM-Fussball ‘Telstar’ aus dem Jahr 1974: Gestaltete Artefakte aus den Bereichen Grafik- und Produktdesign, Architektur und Fotografie lassen die Gäste in faszinierende Formwelten der Moderne eintauchen. Entwurfsskizzen geben dabei Einblicke in Entstehungsprozesse und lassen mathematische Grundlagen erkennen. So basieren die Proportionen von Mark Brauns Keramikvasen ‘Les Trois’ auf der Fibonacci-Reihe.
Darüber hinaus wird der Goldene Schnitt in seiner Funktion als gezielt eingesetztes Marketinginstrument beleuchtet und hinterfragt, welche Rolle er im Dialog zwischen Designer und Konsument tatsächlich spielt. Einen dadaistisch ins Absurde verdrehten Blick auf die oft schon mythische Überhöhung des Goldenen Schnitts liefert das gleichnamige Kunstwerk von Timm Ulrichs aus dem Jahr 1969: ein mit einem goldenen Messer im Goldenen Schnitt zerteiltes Toastbrot.
Dem Nachweis des Goldenen Schnitts am menschlichen Körper widmet sich die ‘Schönheitsinsel’. Gesucht und gefunden wird er hier unter anderem in den Gesichtszügen Marilyn Monroes.
Inwieweit das eigene Gesicht goldenen Regeln entspricht, können Besucherinnen und Besucher bei einem Blick in einen Rasterspiegel überprüfen.
Abgesehen von den visuellen Dimensionen thematisiert die Ausstellung auch weniger bekannte Facetten des Goldenen Schnitts: Die ‘Gorschel’, eine eigens für die Ausstellung entwickelte Orgel, lädt zum Spielen von Melodien ein, deren Tonintervalle im goldenen Verhältnis angelegt sind.
Neben den goldenen Proportionen gibt es weitere prägende Proportionen, die die sichtbare Welt und unsere alltägliche Umgebung modellieren. lm Ausstellungsbereich ‘Normung’ erfahren die Besucherinnen und Besucher, warum sich ein Porzellanservice am genormten Papierformat orientiert und was die Europalette mit der japanischen Tatami-Matte verbindet.
Wie Bildschirmformate unsere Sehgewohnheiten beeinflussen, wird angesichts der Entwicklung von der zylindrischen Versuchsröhre aus dem Jahr 1927 über das jahrzehntelang prägende 4:3-Format bis hin zum hochkant genutzten Smartphone deutlich.
Am Ende tauchen die Besucherinnen und Besucher mit Hilfe einer VR-Brille ein in eine konsequent nach den Regeln des Goldenen Schnitts gestaltete virtuelle Realität. Sieht so die goldene Zukunft aus?
lm Rahmen einer Kooperation widmeten sich die Schülerinnen und Schüler der BEST-Sabel Berufsfachschule für Design in den Fachbereichen Mode, Foto, Grafik, 3D und Produktdesign ein gesamtes Semester dem Thema ‘Goldener Schnitt’. 15 der dabei entstandenen Arbeiten sind nun in der Ausstellung zu sehen.
Katalog erhältlich.
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Info:
9. September 2016 – 26. Februar 2017
Göttlich Golden Genial.
Weltformel Goldener Schnitt?
Museum für Kommunikation Berlin
Leipziger Strasse 16
10117 Berlin-Mitte
Deutschland
Begleitprogramm:
Zur Ausstellung gibt es ein vielfältiges Begleitprogramm mit Vorträgen, Workshops sowie Aktionen für Kinder.
Fotos und Informationen vom Museum für Kommunikation Berlin zur Verfügung gestellt – vielen Dank!
Es gibt für die GoPro eine Folie mit dem goldenen Schnitt bei eBay. Einfach nach “Goldener Schnitt – Displayfolie für GoPro Hero 4, 5, 6, 7 für perfekte Fotos” suchen.
Hallo Gudrun,
ganz herzlichen Dank für Deine umfangreiche Einführung in diese Ausstellung! Vor allem scheint mir sehr interessant, dass die Besucher nicht nur schauen, sondern auch selbst aktiv werden dürfen.
So etwas in München wäre auch mal nicht schlecht 🙂
Liebes Grüßle Annette.
halli hallo annette,
lieben dank zurück! manche ausstellungen wandern ja, wer weiss also, ob nicht auch anderswo interesse besteht und die fäden vielleicht schon im hintergrund gesponnen sind?
zum stichwort interaktiv:
da sagst du was! meine tochter kehrte letzten mai von einem besuch der us-amerikanischen ostküste total begeistert zurück. dazu trug ein besuch bei einem der museen der smithsonian institution bei (den ich ihr empfohlen hatte), das damalige thema: ‘design’. dort konnte man mit einem speziellen stift überall in der ausstellung aktiv werden. ‘das war der hammer!’ lautete ihr kommentar dazu. leider erhalte ich von der smithsonian institution keine antwort auf anfragen und vor allem keine fotos zur veröffentlichung, sonst hätte ich hier im blog schon manches davon vorgestellt …
beste grüsse
gudrun
Hallo Gudrun,
einfach genial und toll von dir beschrieben. Ein Besuch könnte im Rahmen des Möglichen für mich liegen, da wir Anfang 2017 mal wieder nach Berlin fahren wollen. Ist ja von uns aus nicht weit.
Viele Grüße
Birgit
halli hallo liebe birgit,
hab 1000 dank für dein feedback. der goldene schnitt (und was sonst noch damit zusammenhängt) dürfte in dieser ausstellung hervorragend präsentiert sein, so dass man diesem faszinosum noch näher kommt. diese ‘formel’ habe ich schon des öfteren bei quilt-gestaltungen in meine überlegungen einbezogen und bin immer gut damit gefahren. und die eselsbrücke dazu brachte mir mein vater bei: ich habe mir bisher dieses verhältlnis von (ungefähr) 1:1,6 ganz leicht und einfach anhand der flächenaufteilung der schwedischen flagge gemerkt.
viel spass beim ausstellungsbesuch!
beste grüsse
gudrun
Danke liebe Gudrun, für die Eselsbrücke, prima Tipp.
Viele Grüße
Birgit
gern geschehen! mit diesem bild hat man gleich eine vorstellung vor augen.