Wie bereits in den Ausstellungstipps Januar 2022 angekündigt, zeichnet die grosse Sonderausstellung ‘Göttinnen des Jugendstils’, die das Badische Landesmuseum im Karlsruher Schloss in Kooperation mit dem Allard Pierson Amsterdam und dem Braunschweigischen Landesmuseum noch bis zum 19. Juni 2022 präsentiert, das Portrait einer faszinierenden Zeit, schildert Kunst-, Konsum- und Lebenswelten der modernen Frau um 1900 und bietet auch den Künstlerinnen selbst eine Bühne.
Um 1900 erobert der Jugendstil – so nach der 1896 gegründeten Münchner Kulturzeitschrift ‘Jugend’ benannt – das bürgerliche Europa.
Er war eine internationale Kunstbewegung, die als französische Art Nouveau oder Wiener Secession eigene Ausdrucksformen fand. Höhepunkt war die Weltausstellung in Paris im Jahr 1900, die als Meilenstein in der Entwicklung des Jugendstils gilt.
Die fliessenden, schwingenden Linien sind sein Leitmotiv, die zusammen mit den dekorativen floralen Ornamenten von Natur- und Pflanzenmotiven hergeleitet und stilisiert werden.
Vor allem Architekten, Künstler*innen, Kunsthandwerker*innen und Modeschöpfer*innen wenden sich mit dieser Stilbewegung gegen den vorherrschenden Historismus und die als seelenlos empfundene Industrialisierung. Er verleiht Fassaden wie Wohnungen lebendigen Charme.
Auch Frauen sind ein charakteristisches Motiv des Jugendstils und stehen im Zentrum vieler künstlerischer Darstellungen. Feen oder Naturgöttinnen bilden als positiv besetzte Figuren den einen Part.
Als meisterhaftes Beispiel für die naturmystische Verklärung gilt die Büste ‘La Nature’, die vom tschechischen Künstler Alfons Mucha (1860-1939) für die Pariser Weltausstellung 1900 erschaffen wird und auch das Ausstellungsplakat ziert. Ihnen stehen dunkel-sinnliche Darstellungen wie die der männermordenden Medusa oder von kampfbereiten Amazonen gegenüber.
Hier kommt die Reflektion gesellschaftlicher Konflikte zum Ausdruck, die Umbrüche und Widersprüche dieser Zeit, in der wissenschaftliche Erkenntnisse oder neue philosophische oder religiöse Ansätze das bisherige Menschenbild in Frage stellen.
Eine junge Generation von Künstler*innen beginnt, Mensch und Gesellschaft in ihren Werken zu reflektieren. Die Femme fatale bietet ebenso Inspiration wie Frauen aus Legenden oder Mythologie. So versinnbildlichen nackte, sinnlich inszenierte Frauenkörper ein wachsendes Verlangen nach körperlicher Freiheit und mystische Wesen den Wunsch nach spiritueller Erhöhung. Die Gestalten spiegeln die gesellschaftlichen Gegensätze, die Faszination für die Natur ebenso wie für die Dekadenz.
Obgleich Kunst und Realität von Männern dominiert werden, gelingt es Frauen zunehmend, sich unabhängiger zu machen, sie ergreifen Berufe und treten als gefeierte und anerkannte Künstlerinnen in Erscheinung. Um 1900 pulsiert das Leben in modernen Grossstädten. Theater, Varieté, Kino, Café bieten Unterhaltung, Strassenlaternen, die ‘Elektrische’ und Metro verändern das Stadtbild. Erste Kaufhäuser machen für ein kaufkräftiges Publikum den Konsum zum Erlebnis.
In der aufblühenden Werbewelt werden Frauen zu Ikonen stilisiert, sie zieren Luxusprodukte wie Alltagsgegenstände und schmücken vor allem Werbeplakate, die durch neue Drucktechniken weite Verbreitung finden.
Ein neuer moderner Lifestyle hält Einzug. Produkte, die einen Hauch von Luxus versprechen, werden beliebt, wie z.B. Glas und Keramik sowie vor allem die Silber- und Metallwaren, die durch Serienproduktion erschwinglich sind.
Bildende und angewandte Kunst verschmelzen miteinander und wie bei der Arts and Crafts-Bewegung sollten die Produkte zugleich schön, zweckmässig und handwerklich solide sein. Auch hier ist die Bildsprache eng mit Frauendarstellungen verbunden: Ihre idealisierten Körper und ihr wallendes Haar zieren dekorative Produkte wie Vasen oder Leuchter.
Die Idee der ‘neuen Frau’ kommt auch über die Plakate zum Ausdruck: sie treibt Sport, liest Zeitung und raucht Zigaretten. Dies soll selbstverständlich auch den Konsum anregen, auch Frauen sollen Kundinnen werden.
Eigens für diese Zielgruppe werden Schmuck und Accessoires entworfen. Motive aus der Pflanzen- und Tierwelt, fantasievolle Fabelwesen, aber auch Frauendarstellungen oder geometrische Formen zieren die Schmuckstücke.
Als einer der bekanntesten Schmuckkünstler feiert René Lalique (1860-1945) bei der Weltausstellung in Paris grosse Erfolge, aber auch Pforzheim ist ein wichtiger Produktionsort.
Weltstars wie die Tänzerin Loïe Fuller (1862-1928) …
… oder die Schauspielerin Sarah Bernhardt (1844-1923) stehen auf den Bühnen der Welt, verzaubern das Publikum und erhalten nicht zuletzt durch die allgegenwärtige Plakatkunst namhafter Jugendstil-Künstler wie Alfons Mucha den Status lebender Ikonen.
Thematisiert wird in der Ausstellung jedoch nicht nur die Lebenswelt der modernen Frau. Kaum Widerhall in den künstlerischen Darstellungen finden die realen, häufig von Repressionen geprägten Lebensumstände vieler Frauen um die Jahrhundertwende. Und das, obwohl die aufkeimende Frauenbewegung – Frauen organisieren sich erstmals in Vereinen – nach Bildung und Berufstätigkeit, gesellschaftlicher Teilhabe und politischer Mitsprache verlangt. Letztere bleibt ihnen zunächst verwehrt, erst 1918 erhalten sie in Deutschland das Wahlrecht. In Karlsruhe jedoch wird 1893 das erste Mädchengymnasium Deutschlands eröffnet und erste Studentinnen schreiben sich an den Universitäten von Freiburg und Heidelberg ein. Dieses neue Selbstbewusstsein findet auch Ausdruck in neuartigen Objekten: vom Damenfahrrad bis hin zur (Freizeit-)Kleidung.
Trotz schwieriger Voraussetzungen wagen sich Frauen als freischaffende Künstlerinnen auf den Kunstmarkt, wie z.B. die heute nur noch wenig bekannte Malerin Julie Wolfthorn.
Wie viele andere Jugendstil-Künstlerinnen steht sie im Schatten der männlichen Kollegen und hat mit Benachteiligungen zu kämpfen. Die Ausstellung stellt verschiedene Lebenswege vor und will damit auch jenen Künstlerinnen eine Bühne bieten, die in Forschung und Museen bislang wenig präsent sind.
Oftmals sind Frauen in der angewandten Kunst tätig. Gezeigt werden Werke der bedeutenden Keramikerin Jutta Sika, die zwar z.B. für die Wiener Werkstätte Entwürfe liefert, aber nicht mit eigenem Namen signiert.
Änne Koken ist eine der ersten Werbegrafikerinnen Deutschlands, die Firmenzeichen, Reklame und Verpackungen entwirft und das Corporate Design für bis heute existierende Firmen wie Bahlsen oder Appel Feinkost entwickelt. Auch Entwürfe für schlichte, aber dekorative Reformkleidung entstehen in ihrem Atelier.
So wie das Fahrrad zum Vehikel und zugleich zum Symbol der Emanzipation wird, befreien sich die Frauen buchstäblich von alten Korsetts, die zugunsten von praktischerer und gesünderer Kleidung abgeschafft werden und die Reformkleid-Bewegung in Gang setzen.
Als engagierte Befürworterin der Reformkleidung kämpft Emmy Schoch (1881-1968) in Vorträgen, Veröffentlichungen und bei Ausstellungen für modische und gesunde Frauenkleidung. ‘Göttinnen des Jugendstils’ stellt sie als so erfolgreiche Unternehmerin und Modeschöpferin vor, dass ihr Mann seinen Beruf für die Firma aufgibt.
Als gelernte Damenschneiderin – wobei der Handwerksberuf noch nicht für Frauen anerkannt ist – eröffnet sie 1906 eine eigene ‘Werkstätte für neue Frauentracht und künstlerische Stickerei’ mit 10 Beschäftigten in der Karlsruher Herrenstrasse, die so rasant wächst, dass die Zahl der Beschäftigten bis zum Ersten Weltkrieg (1914) auf 60 steigt. Die Werkstätte übersteht die beiden Weltkriege, jedoch war die Zeit für massgeschneiderte Modelle 1953 vorbei.
Mit phantasievollen Kreationen und schlichten Typenkleidern feiert Emmy Schoch zunächst grosse Erfolge, was vielleicht auch der Tatsache zu verdanken ist, dass sie nach Mass fertigt, aber manche Modelle auch in drei Grössen anbietet und damit unternehmerisch schon in Richtung Konfektion unterwegs ist. Das Badische Landesmuseum zeigt aus dem eigenen Bestand das Oberteil eines Damen-Teekleides, das um 1911-13 in Emmy Schochs Werkstätte entsteht.
Es entpricht ganz den Forderungen Emmy Schochs, die nicht nur neue Schnitttechniken, sondern auch unter hygienisch-ethischen Aspekten die Verwendung erlesener Materialien propagiert. Zudem plädiert sie für die Annäherung an das zeitgenössische Kunstgeschehen, so dass ihre Werke die ästhetische Welt des Jugendstils verkörpern.
So verzichtet sie bei diesem Teekleid aus Atlasseide der Firma Liberty (London) auf die Wespentaille. Stattdessen ist es ein locker fliessendes Gewand mit seitlichen Schüsselfalten, einer umstrittenen Neuheit und zugleich der Inbegriff des Reformkleids, die auch der Pariser Modeschöpfer Paul Poiret verwendet. Es ist reich mit floralen Elementen maschinell und von Hand mit Seide im Plattstich bestickt und entspricht auch in der Farbwahl ganz dem Zeitgeist des Jugendstils.
‘Göttinnen des Jugendstils’ zeichnet mit den etwa 200 spektakulären Werken aus den Beständen der drei Kooperationspartner sowie vieler Leihgeber die faszinierende und facettenreiche Welt des Jugendstils mit all ihren Ambivalenzen nach. Die Ausstellung lässt erkennen, dass grundlegende Fragen bis heute bestehen und nichts von ihrer Brisanz verloren haben und lädt zum Geniessen, aber auch zum Nachdenken ein. Eine unbedingte Empfehlung!
Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Begleitband erhältlich, der zur Amsterdamer Schau erschienen, aber ins Deutsche übersetzt ist.
Zahlreiche Begleitangebote umrahmen die Ausstellung, die auf der Website des Museums ersichtlich sind.
Auch interessant:
Mein Bericht über Jugendstil-Mode und -Architektur in Riga (2012/13) mit vielen Fotos
Info:
18. Dezember 2021 – 19. Juni 2022
Göttinnen des Jugendstils
Badisches Landesmuseum
Schloss Karlsruhe
Schlossbezirk 10
76131 Karlsruhe
Deutschland
Fotos: © Gudrun Heinz mit freundlicher Erlaubnis des Badischen Landesmuseums Karlsruhe (soweit nicht anders angegeben)
Text: Gudrun Heinz unter Verwendung der Presse-Mappe, des Katalogs und der Unterlagen von Frau K. Kokoska (Themenführung Emmy Schoch) sowie der Kuratorin, Frau Dr. E. Kollar – herzlichen Dank an alle Beteiligten für das freundliche Zur-Verfügung-Stellen von Informationen und Bildmaterial!
Liebe Gudrun!Danke für diesen Bericht! Am liebsten: auf nach Karlsruhe!!
Für uns Patchworker ist der Jugendstil doch auch eine Inspirationsquelle. Einige frei geschwungene Linien können wir doch mittlerweile auch mit dem freien Schneiden herstellen.Schon als junges Mädchen kaufte ich mir ein Buch über den Jugendstil. Dann in späteren Jaren kam ich häufiger nach Worpswede und natürlich zu den Werken von Heinrich Vogeler.Ob man nicht seine legendären Tulpenstühle in einen Quilt zaubern könnte? (dürfte?).Liebe GrüßeWiebke
halli hallo wiebke,
ich danke dir vielmals für dein interessantes feedback, über das ich mich sehr freue. ich habe mal recherchiert – einfach so – nach den von dir erwähnten möbelentwürfen. es gibt in worpswede anscheinend eine möbeltischlerei, die speziell auf dem gebiet tätig ist. insofern müsste man, wenn man tatsächlich die motive in einen quilt einarbeiten möchte, vorsichtig sein, um keine urheberrechtsprobleme zu verursachen. lass’ dich davon lieber zu einem eigenen motiv anregen!
beste grüsse
gudrun
Liebe Gudrun!
Nein, keine Bange, das mache ich wohl auch nicht. Aber ist schon beeindruckend, was diese Tischlerei (und auch eine Weberei) dort mit den Entwürfen von Vogeler anfertigen.
Liebe Grüße
Wiebke
Hallo Gudrun,der Jugendstil ist wirklich eine total interessante Kunstrichtung. Hat einen ganz besonderen Reiz, eigenwillig und sehr spannend.Viele GrüßeBirgit
halli hallo birgit,
ja, da hast du recht. schon allein der name ‘jugendstil’ löst ein besonderes feeling aus und fasziniert bis heute viele fans. irgendwas muss da dran sein 🙂 liebe birgit, ich danke dir sehr für dein feedback zu dieser spannenden ausstellung, in die ich mich richtiggehend (r-)eingearbeitet habe … das war schon mit der jugendstil-mode und -architektur in riga so, aber es sind nun die jahre vergangen und es war mal wieder an der zeit. und die ‘göttinnen des jugenstils’ nehmen auch noch mehr in den blick.
mach’s gut und bleibe mir gewogen.
beste grüsse
gudrun