Beschreibung

Die Sonne drängte sich forsch durch die Ritzen der Jalousie, Amsel und Lerche hatten bereits ihre ersten Strophen gezwitschert. So geweckt, wusste ich sofort: heute, heute ist der ganz besondere Tag!
Der Tag, an dem ich den Schleier nähe.
Das Kleid, genäht aus Wildseide und Seiden-Organza, bestickt mit tschechischen Perlen im Bustier, war schon eine Weile fertig und hing, staub- und lichtgeschützt, auf der Puppe. Auch mein Kleid, mutig in Pink, ist schon genäht. Nur den Schleier habe ich bis zum Schluss aufgehoben. War dies doch stellvertretend für „unter die Haube kommen“, oder auch, der letzte Akt, das Kind fortzugeben. Mein kleines Lieschen; ausgetragen, genährt, umsorgt, begleitet. Und jetzt auf einmal: fort? Bin ich dann noch Mutter, wenn sie weg ist? Jedes Wort ein Schluchzer…
Alles ist schon parat, wartet nur auf den Einsatz an der Maschine. Tränenblind nähe ich die Rollsäume auf der alten Bernette 800D, füge Kämme, Draht und Perlen hinzu. Und weine ganz fürchterlich über das“ Weg-Geben“ meines Kindes. Pünktlich zum Frühstück ist der Schleier fertig, und der Kaffee schon vom liebevollen Ehemann gekocht.
Nach dem sorgfältigen Verpacken von Kleid und Schleier in dem eigens angeschafften luftdichten Alukoffer ging es ein paar Tage später gen Osten in die USA zur Hochzeit.
Mein wunderschönes Kind trug Kleid und Schleier mit einer natürlichen Anmut, dass mir das Herz aufging. Und da habe ich gemerkt: ich habe mein Kind nicht verloren, ich habe sogar noch eins dazu bekommen! Einen wundervollen Schwiegersohn!!
Ich habe davor und auch danach alles Mögliche genäht, was zwischen Haut und Hut passt, aber der Schleier wird für immer das bewegendste Stück sein!