Korallenriffe auf der ganzen Welt werden durch die globale Erwärmung zerstört. Als Reaktion auf diese Umwelttragödie haben die Künstlerschwestern Margaret und Christine Wertheim ein Werk geschaffen, das auf den Mitteln traditioneller Handarbeitstechniken basiert: das Projekt ‘Crochet Coral Reef’ (gehäkeltes Korallenriff).
Ihre gehäkelten Korallenriffe stellen eine raumgreifende Simulation von Farben und Formen dar, die vom australischen Great Barrier Reef inspiriert ist: Ein kollektiver Akt künstlerischer Produktion, der schon Tausende von Menschen rund um den Globus einbezogen hat, eine ästhetische Symbiose aus Kunst, Wissenschaft, Mathematik und kollektiver Praxis, der die unendlichen Möglichkeiten kreativen Handarbeitens zugrunde liegen. Das Projekt wurde auf der Biennale von Venedig 2019 erstmals der internationalen Kunstöffentlichkeit vorgestellt.
Derzeit präsentiert das Museum Frieder Burda in Baden-Baden noch bis zum 26. Juni 2022 eine umfassende Hommage an das Werk der beiden Künstlerinnen in Form einer Installation, die geradezu in das gesamte Haus ‘hineinwuchert’. Udo Kittelmann, künstlerischer Leiter des Museums, hat die alle Räume des Hauses umfassende Ausstellung in enger Zusammenarbeit mit den Schwestern Wertheim entwickelt.
Neben Riffen der Wertheims umfasst das Projekt auch von Bewohnern vieler Länder geschaffene sog. Satellitenriffe. Für das Museum Frieder Burda verwandelt ein neues ‘Baden-Baden Satellite Reef’ das Obergeschoss in eine kaleidoskopische Unterwasserwelt. Mit mehr als 40.000 Korallenbeiträgen, gefertigt von 4.000 Mitwirkenden in Deutschland und andernorts, ist dies das bei weitem grösste Satellite Reef. In ganz Deutschland kamen Menschen zusammen, um zu häkeln und auf die Krise aufmerksam zu machen, die sich in den Weltmeeren ausbreitet.
Mit grossem Einsatz hat im Museum ein Team unter Anleitung von Margaret und Christine Wertheim diesen wollenen Strom zu einer Reihe dreidimensionaler Koralleninseln und einer grossangelegten Wandinstallation ausgestaltet.
Die Korallenriffe der Welt sind bedroht. Das Great Barrier Reef, das erste Lebewesen, das aufgrund seiner immensen Grösse vom Weltraum aus sichtbar ist, erstreckt sich über 344.000 Quadratkilometer. Doch in den letzten Jahrzehnten sind 60 % dieses maritimen Wunderwerks an Korallenbleiche erkrankt, weite Bereiche des einstmals pulsierenden Lebens sind nun tot.
Zu den traditionellen Belastungen durch Überfischung, Tourismus und landwirtschaftliche Abwässer kommen nun noch die Erwärmung der Meere und die Versauerung der Ozeane hinzu, beides Folgen der wirtschaftlichen Übermacht der globalen Petrochemie.
Das Projekt ‘Crochet Coral Reef’ sensibilisiert und regt zum Nachdenken an über diese grosse anthropogene Krise. Es stellt eine künstlerische Installation dar, die sowohl emotional als auch monumental ist, indem sie die beiden Ebenen – die privat ausgeführten und anschliessend öffentlich ausgestellten Handarbeiten – eindrucksvoll zusammenführt: Die subjektive Tätigkeit wird transformiert in die kollektive Inszenierung im öffentlichen Raum eines Museums.
Die ungewöhnliche Begegnung aus Kunst und Wissenschaft im Projekt ‘Crochet Coral Reef’ spiegelt das berufliche und persönliche Leben der Schwestern Margaret und Christine Wertheim wider. Margaret arbeitet nicht nur als Künstlerin, sondern ist auch eine international anerkannte Wissenschaftsautorin und Verfasserin von Büchern über die Kulturgeschichte der Physik.
Christine, eine Dichterin und vormalige Malerin, unterrichtet seit Jahrzehnten Critical Studies and Art Theory am Goldsmith’s College in London und am California Institute of the Arts in Los Angeles. Da die beiden Schwestern schon in ihrer Kindheit lernten, ihre eigene Kleidung herzustellen, ist die Verbindung von Kunsthandwerk mit konzeptionellen Ansätzen aus Wissenschaft und Kunst für sie naheliegend. Zugleich verfolgen sie damit einen feministischen Ansatz.
Seit sie im Jahr 2005 mit ihren gemeinsamen Projekten begannen, haben die Schwestern Wertheim mit Gemeinschaften in 50 Städten und diversen Ländern zusammengearbeitet, um die für ihre Arbeit signifikanten ‘Häkelriffe’ jeweils vor Ort entstehen zu lassen. Bis heute haben fast 20.000 Menschen, zumeist Frauen, an diesem installativen Gesamtwerk mitgewirkt.
In Baden-Baden hat das Projekt eine bislang noch nie da gewesene Resonanz hervorgerufen. Mehr als 40.000 gehäkelte Korallen sind als Reaktion auf den vorherigen öffentlichen Aufruf im Museum eingetroffen. In ganz Deutschland haben sich Gemeinschaften im Geiste eines ‘kreativen Häkelns’ zusammengeschlossen, um auf diese Weise auf die Krise der Weltmeere aufmerksam zu machen.
Es ist kein Zufall, dass spezifische Formen des Kunsthandwerks, die normalerweise mit weiblicher Identität assoziiert werden, Gegenstand zahlreicher aktueller Ausstellungen und Neubewertungen sind. In ihnen artikulieren sich subtile Botschaften über Selbstbestimmung, stille Rebellion und feministischen Protest, in den mit leicht verfügbaren textilen Materialien hergestellten Objekten und Praktiken sind kodierte Texte eingeschrieben und eingewebt.
Gleichzeitig umfasst das Projekt auch eine mathematische Dimension. Denn die hier gefertigten Formen basieren auf der hyperbolischen Geometrie, einer alternativen mathematischen Theorie jenseits der klassischen euklidischen Geometrie. Alle gekräuselten, korallenähnlichen Formen, die in dieser Ausstellung zu sehen sind, sind handwerkliche Simulationen mathematischer Formen, wie sie die Korallen und andere Meeresorganismen ausbilden.
Durch das Häkeln mit Garn betreiben die Autorinnen und Autoren der Werke eine Art angewandte Mathematik, gleichzeitig bringen sie Handwerk und Geometrie mit dem Klimawandel und der Entwicklung des Lebens auf der Erde in Verbindung.
‘So wie sich Lebewesen durch kleine Veränderungen eines zugrunde liegenden DNA Codes weiterentwickeln, so entwickelt sich auch das gehäkelte Korallenriff durch kleine Veränderungen eines zugrunde liegenden Häkelcodes. So entsteht eine Taxonomie der Häkelkorallen-‘Organismen’ ‘, kommentieren die beiden Schwestern ihre Arbeit.
Die kalifornische Philosophin Donna Haraway, die sich im besonderen mit einer Neudefinition des Verhältnisses von humanen und non-humanen Lebewesen beschäftigt hat, schreibt im Katalog zur Ausstellung: ‘Das gehäkelte Korallenriff ist eine ‘SF-Story’ aus Fadenfiguren, Science-Fact, Science-Fiction, genähten Fantasien und spekulativen Fabeln. Dieses hyperbolische Riff ist materiell, figurativ, kollaborativ, tentakelhaft, weltlich, im Gewebe und auf den Oberflächen der Erde verstreut, spielerisch, ernsthaft, mathematisch, künstlerisch, wissenschaftlich, fabelhaft, feministisch, geschlechtsübergreifend und multispeziesistisch.’
Udo Kittelmann über die Ausstellung: ‘Die geheimnisvolle Schönheit und Artenvielfalt von Korallen ist von grenzenloser Wandlungsfähigkeit, sie bilden ein ganzes Ökosystem und sind daher ein wichtiger Bestandteil unserer Existenz. Heute verlieren diese kunstvollen Lebewesen infolge des dramatischen Klimawandels überall auf der Welt ihre Schönheit. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit, der die Menschheit zwingt, schnell zu handeln und Massnahmen
zu ergreifen.’
Kittelmann, künstlerischer Leiter des Museums, weiter: ‘Es ist heute für die Kunst immer entscheidender, die Grenzen des eigenen Betriebs zu überwinden und in andere Disziplinen und Dimensionen vorzustossen – wenn sie denn in dieser Welt wirklich noch etwas bewegen will. Ich erachte kulturelle Institutionen, so auch Museen, als spezifische Orte in einer Zeit, in der die Grenzen des Visionären in der Politik immer offensichtlicher werden und es umso wichtiger ist, die Ideen von Künstlerinnen und Künstlern sowie Kulturschaffenden einzubeziehen in die Gestaltung unserer Gesellschaft und Welt.’
Museumsdirektor Henning Schaper freut sich über die Ausstellung und den grossen Zuspruch, den der Aufruf zur Häkelaktion bereits hervorgerufen hat: ‘Das weltweit bereits vielfach beachtete Projekt ‘Crochet Coral Reef’ von Margaret und Christine Wertheim wird nun in Baden-Baden präsentiert und zugleich weiterentwickelt.’
Dass daneben das neue Baden-Badener ‘Satellite Reef’ als Community-Art-Projekt, als eine partizipative Installation entstanden ist, freut Schaper. Die Besucher*innen erwarte nicht nur eine besondere Ausstellung, auch der Prozess der Entstehung sei schon sehr dynamisch und überaus inspirierend gewesen. Die zahllosen neu entstandenen und eingesandten Häkel-Korallen wuchern durch das ganze Haus.
Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog mit zahlreichen Abbildungen sowie Beiträgen u.a. von Margaret Wertheim, Christine Wertheim, Donna Haraway, Heather Davis, Amita Deshpande, Doug Harvey, Kayleigh Perkov, Cord Riechelmann und Udo Kittelmann erhältlich.
Zur Ausstellung gehört zudem ein umfangreiches Begleitprogramm (siehe bitte im Flyer) und das auch im Einzelnen über die Webseite abrufbar ist. Dort findet man auch zwei hochinteressante Videos: Zum einen einen Rundgang mit Ausstellungsimpressionen und Informationen zum HIntergrund, zum anderen ein Künstlergespräch mit den Schwestern Wertheim, allerdings in englischer Sprache.
Die Entstehung des ‘Baden Baden Satellite Reef’ wurde durch Energie Baden-Württemberg AG gefördert.
Ein ganz herzliches Dankeschön geht an Elsbeth Nusser-Lampe, die mitgehäkelt hat, und an Ursula Brenner für diesen grandiosen Ausstellungstipp!
Info:
29. Januar – 26. Juni 2022:
MARGARET UND CHRISTINE WERTHEIM
WERT UND WANDEL DER KORALLEN
MUSEUM FRIEDER BURDA
Lichtentaler Allee 8b
76530 Baden-Baden
Deutschland
***
Alle Fotos sowie Informationen und Text freundlicherweise vom Museum Frieder Burda, Baden-Baden, zur Verfügung gestellt – vielen Dank!
Weitere Informationen zu Ausstellungen finden Sie auf meiner Website in der Rubrik AUSSTELLUNGSKALENDER.
Danke für diesen Bericht! 2012 habe ich am Satelliten- Riff Föhr mitgehäkelt, im Juni ’12 dann auch die Vernissage im Museum Kunst der Westküste besucht. Mir war es wichtig, auf die Bedrohung eines Ökosystems hinzuweisen, auch fand ich die mathematische Dimension (Materialisierung des hyperbolischen Raumes) sehr interessant. Für mich ist Häkeln, wie auch meine anderen Handarbeiten, so etwas wie Meditation, ich muss nicht “still rebellieren” oder “feministischen Protest” einweben! Als unabhängige, berufstätige Mutter von drei Kindern fühle ich mich sehr emanzipiert und wundere mich über diese feministischen Deuteleien!
halli hallo elke,
vielen dank zurück für deinen interessanten kommentar. ich persönlich finde es gut, dass du dich schon früher gegen die bedrohung dieses ökosystems engagiert hast. dass die handarbeit dir freude bereitet, ist doch ein willkommener effekt. und wenn du dich sehr emanzipiert fühlst – um so besser für dein befinden. hinsichtlich der ‘feministischen deuteleien’ möchte ich an deine toleranz appellieren und mit friedrich dem grossen antworten: ‘jeder nach seiner façon’. ok?
beste grüsse
gudrun
Liebe Gudrun,vielen Dank für den tollen Bericht! Meine Korallen sind auch dabei 🙂 Ich freue mich, sie bald in echt zu sehen!Liebe Grüße, Stefanie
halli hallo stefanie,
das ist ja mal klasse, dass du dich als mitwirkende an diesem phantastischen projekt hier meldest – vielen dank! dann wünsche ich einen schönen besuch und ein gutes spürnäschen, damit du deine korallen in der menge auch wiederfindest 🙂
ein schönes wochenende und
beste grüsse
gudrun
Hallo, vielen Dank für diesen tollen Bericht. Ich habe selber mitgehäkelt, was eine große Freude war! So bald wie möglich werde ich nach Baden-Baden in die Ausstellung fahren. Liebe Grüße, Jutta
halli hallo jutta,
vielen dank zurück! ich freue mich sehr über deinen kommentar und dass du mitgehäkelt hast. super! für deinen besuch wünsche ich dir viel freude – es ist doch immer sehr spannend zu entdecken, was die organisatoren einer ausstellung sich haben einfallen lassen, wie alles – und besonders natürlich das eigene stück – zur geltung kommt. aber da bin ich guter dinge, die fotos sehen doch vielversprechend aus. also, einen gelungenen besuch in baden-baden 🙂
beste grüsse
gudrun
Hallo Gudrun,danke für diesen informativen Bericht und die tollen Fotos. Die Faszination dieser Kunstwerke ist unglaublich. Sie ziehen einen förmlich in ihren Bann. So filigran und naturgetreu, sagenhaft. Chapeau! vor den Künstlerinnen. Außerdem finde ich die Botschaft natürlich immens wichtig.Viele GrüßeBirgit
halli hallo birgit,
vielen lieben dank für deine rückmeldung, über die mich wieder mal sehr freue. wie gut, dass auch du dich von dieser ausstellung so sehr angesprochen fühlst, sowohl von ihrer ästhetik, als auch von ihrer message. dem ganzen liegt eine geniale idee zugrunde und ich hoffe sehr, dass dieses projekt dazu beitragen kann, den zustand unserer ozeane in der öffentlichkeit breiter bewusst zu machen – und natürlich auch verhaltensänderungen auf jeder ebene anzustossen. das wäre schon ganz wichtig.
beste grüsse
gudrun
liebe gudrun, vielen dank für diesen super-tollen bericht! es freut mich sehr, daß mein kleiner hinweis “gepaßt” hat, und ich hoffe sehr, daß diese ausstellung und aktion die dringend notwendigen re-aktionenen befördern – in den vielen verschiedenen bereichen und auch privat so ganz praktisch z.b. beim thema müll oder oder oder… sehr gelungen finde ich auch die art der installationen – diese wahnsinnsarbeit beim aufbau! freue mich schon auf einen besuch, und ausnahmsweise werde ich mir evtl. sogar einen katalog gönnen.viele grüße an dich – von uschi
halli hallo uschi,
auch an dich ein grosses dankeschön! ich habe in den antworten auf die bisherigen kommentare ja schon vieles genannt, was mich ausser der tollen ausstellungs-optik begeistert. ich denke, dein ausflug nach baden-baden wird dich nicht enttäuschen, die stadt an sich ist ein kleines juwel.
beste grüsse
gudrun
Hallo liebe Gudrun! Soo ein toller Bericht über ein unfassbar WUNDERBARES Projekt ! Sooo viele Formen und Farben an gehäkelten Korallen, unglaublich!!!! Tolle Künstlerinnen! DANKE!
halli hallo jutta,
1000 dank für deine begeisterten zeilen! freut mich sehr. manchmal sind solche ideen wie diese einfach die besten. material und technik: leicht zu realisieren. thema: jeder mitwirkende kann eine eigene vorstellung entwickeln und umsetzen. ziel: aufsehen erregen und auf ein riesiges problem unserer zeit aufmerksam machen. alles erreicht! die kunst ist doch manchmal das unschlagbare mittel.
beste grüsse
gudrun
Liebe Gudrun,das ist ja eine wunderbare Art auf Korallen aufmerksam zu machen. Die Arbeiten sind sehr schön und sehen aus der Ferne sogar echt aus. Die Idee , sie zu häkeln, ist großartig und die Problematik kann so sicher einem größeren Publikum vermittelt werden.Herzlichen Dank für diesen tollen Beitrag.Liebe GrüßeErika
Leider gibt es hier nur noch Fließtext, sorry
halli hallo erika,
vielen herzlichen dank für deinen wie immer positiven kommentar, über den ich mich mal wieder sehr freue. ja, du hast genau recht, eine grandiose und ästhetische, sehr schöne idee und ausstellung, um auf die problematik aufmerksam zu machen. die schwestern wertheim befolgen damit ein prinzip des kommunikationsdesigns: schwierige inhalte durch ästhetische darstellung erfolgreich zu transportieren. und damit nicht genug. sie haben durch das einbeziehen so vieler zuarbeitender hände das projekt richtig gut verankert. auch die wahl des materials und der häkeltechnik ist genial, finde ich. so konnten alle mitwirkenden richtig kreativ werden.
beste grüsse
gudrun
ps: zum fliesstext: leider ist das problem schon länger vorhanden. es stört mich hier auch, weswegen ich meine antworten nochmals anschliessend im back end des blogs bearbeite.