Faszination, schon als mich Ursula Brenner auf diese besondere Ausstellung hinwies, für die die Künstlerin Tanja Boukal das Zitat des Ausspruchs von Walter Ulbricht vom 15. Juni 1961 als Titel wählte und damit angesichts der historischen Tatsachen erhöhte Wachsamkeit auch in der heutigen Zeit einfordert. Bedauern, dass ich es bei einer kurzen Ankündigung belassen musste und nicht mehr davon sehen konnte. Aber nur kurz. Denn Ursula Brenner hat nicht nur ihre Aufmerksamkeit auf Ausstellungsbesuch und Diskussionsabend gerichtet, sondern hatte auch ihre Kamera dabei. Herausgekommen ist ihr nachfolgender Bericht, der sehr eindrücklich auf die Arbeit der Künstlerin eingeht, die die Schicksale der betroffenen Menschen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt und der auch die gesellschaftspolitische Relevanz von Kunst einmal mehr unterstreicht.
Ein grosses Dankeschön dafür, liebe Uschi!
Tanja Boukal:
„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“
Ausstellung im Holbeinhaus Augsburg
von Ursula Brenner
An geschichtsträchtigem Ort, dem Holbeinhaus Augsburg, werden dank des Engagements des Kunstvereins Augsburg e.V. vom 10. April – 4. Juni 2016 Werke der Wiener Künstlerin Tanja Boukal gezeigt. „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, so lautet der Titel der Ausstellung.
Tanja Boukal, geb. 1976, studierte ab 1995 in Wien und Salzburg. Ab 1997 bzw. 1999 beteiligte sie sich an zahlreichen Gruppenausstellungen und -projekten. Ab 1999 wurden ihre Werke bei Einzelausstellungen im In- und Ausland gezeigt. Stipendien führten sie 2002 nach Salzburg bzw. von 2003 – 2004 nach Barcelona.
In ihrem Künstlerstatement schreibt Tanja Boukal: „Menschen stehen im Mittelpunkt meiner Arbeit. Menschen in Interaktion mit ihrem Umfeld, der Gesellschaft. Menschen in besonderen Situationen und ihr einzigartiger Umgang damit. … mich interessiert, wozu sie imstande sind, wenn sie in nicht alltägliche Situationen geraten. Mich interessieren ihre Lösungswege, ihre Strategien, ihr Wille, ihr Ziel zu erreichen …“.
Diese Bestrebungen beobachtet Tanja Boukal nicht aus der Ferne, sondern sie reist seit vielen Jahren immer wieder in Krisengebiete und in Flüchtlingslager, um die Situation vor Ort auch fotografisch zu dokumentieren. Ihre künstlerische Arbeit verrichtet sie dann in ihrem Atelier: Pixelgetreu, mit enormem Aufwand in vieler Hinsicht, werden die ausgewählten Bilder in höchst beeindruckende Kunstwerke umgesetzt. Dabei arbeitet sie mit Kunststricktechniken ebenso souverän wie mit Stick- oder Webtechniken, und ihre Ausbildung in Papierarbeiten und Formenbau kommen ihr ebenso zugute.
Ihr scharfer Blick und wacher Geist und ihr Wagemut ermöglichen Tanja Boukal, schwierige Themen direkt und unmittelbar aufzunehmen und in Beziehung zu setzen. So gelingt es ihr, mit ihren Arbeiten eindrücklich auf die Schicksale, Nöte und Enttäuschungen der Menschen am Rande unserer Wohlstandsgesellschaft aufmerksam zu machen und auf die gesellschaftspolitische Relevanz von Kunst eindrücklich hinzuweisen. Daß sie als Medium bei vielen Arbeiten textiles Material verwendet und sog. traditionelle Handarbeitstechniken einsetzt erhöht die Spannung in ihren Werken ganz erheblich.
„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ – man hat den Tonfall dieses Satzes, gesprochen von einem Staatsratsvorsitzenden, buchstäblich im Ohr, und man weiß, was dann nach zwei Monaten am 13. August 1961 in Berlin geschah. An dem Diskussionsabend mit Tanja Boukal erklärte sie den gewählten Titel damit, daß sie momentan sehe, wie an allen Ecken und Enden wieder Mauern und Zäune errichtet würden. Ihre Ausstellung im Holbeinhaus Augsburg kann als Aufruf zum Hinschauen und Hinhören verstanden werden.
Beim Betreten der hellen und freundlichen Ausstellungsräume des Kunstvereins sieht der Besucher die erste Installation von Tanja Boukal: Eine Fotogalerie mit Menschen, die sich alle in das gleiche weiße Tuch hüllen:
Im Rahmen ihres „Melilla-Projekts“ (http://www.boukal.at/de/melilla-projekt) fotografierte Tanja Boukal Flüchtlinge auf beiden Seiten des Zauns um die spanische Enklave Melilla, eingehüllt in dieses zarte, von ihr handgestrickte weiche Kaschmirtuch. Nach teilweise langen Diskussionen betrachtet Tanja Boukal deren Einverständnis als großen Vertrauensbeweis.
Der eingestrickte Text war den Menschen übersetzt worden – es ist die gemeinsame Hymne der europäischen Union, die „Ode an die Freude“. Eingerahmt wird Schillers Text von Stacheldraht, die Randeinfassung bildet ein scharfes Zackenmuster.
„Schutzwall“ nennt Tanja Boukal ihre großformatige Textil-Installation im Lichterker des Holbeinhauses. Fünf hohe Paneele hängen von der Decke, die Besucherin blickt auf einen Maschendrahtzaun, pixelgetreu nach Foto des Originalzauns aus Melilla, eingewebt in weichen Frottee.
Unwillkürlich stößt man beim Hindurchlaufen an die Bahnen, aber hier sind sie ja flexibel und geben nach, und sie sind ja auch nicht so hoch wie der echte Zaun!
Beim Weitergehen in den 1. Stock des Holbeinhauses befindet man sich dann auf Höhe der oberen Kante der Bahnen, mit 3,90 m immer noch erst halb so hoch wie das Original: mit scharfzackigem Stacheldraht bewehrt, und doch blickt man in das Gesicht eines Flüchtlings.
Ebenfalls im Rahmen des Melilla-Projekts entstanden die Aufnahmen zu „Melilla tiene una Valle“ (Melilla hat einen Zaun) rund um die Eingrenzung / Abgrenzung: 11 km ist der Zaun lang, der Spanien / Europa von Marokko trennt.
Tanja Boukal ist ihn komplett abgelaufen und hat das Leben auf beiden Seiten fotografiert.
In Feinarbeit, mit diffiziler Farbauswahl und detailgetreu, wurden dann die Motive von Tanja Boukal nachgestickt.
Hierzulande sind Fertigpackungen mit harmonischen und idyllischen vorgezeichneten Motiven oder Sehenswürdigkeiten für Gobelin-Stickerei erhältlich, hier geht es um andere Ansichten.
Anhand einer Serie von Zeitungsbildern von Flüchtlingen auf Lampedusa entstanden diese textilen Dokumente. „Am seidenen Faden“ – in vieler Hinsicht ein treffender Titel, von Tanja Boukal umgesetzt mit feinsten Stickstichen, delikaten Farben, pixelgetreu – und erschreckend.
Ein einziger Monat im Jahr 2007 – die Anzahl der ertrunkenen Menschen in der Ägäis in 30 Tagen – festgehalten in Zeitungsmeldungen, und hier verarbeitet zu der Installation „Weit draussen“.
In ihren großformatigen Strickbildern, umgesetzt nach Fotoaufnahmen aus den verschiedensten Umständen und Gelegenheiten, in die jeder Flüchtling geraten kann, thematisiert Tanja Boukal diese Notsituationen. Eingefaßt von opulenten gestrickten „Goldrahmen“ verschärfen sich diese Aussagen.
Ein Tisch, gedeckt für 4 Personen:
Ein meistverkauftes Möbelprogramm, wie es in unzähligen Haushalten steht, Sets, Teller und Trinkgläser
und dann, dann sieht man den Stacheldraht
und die Motive der feingewebten Sets:
Technik:
Die Gläser wurden von Tanja Boukal nach ihren Fotovorlagen graviert.
Die Sets wurden nach Foto-Vorlagen gewebt.
Das Zwingende an der Ausstellung „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ besteht in der künstlerischen Umsetzung von gründlich recherchiertem, dokumentatorischem Ausgangsmaterial mit Hilfe von traditionellen Handwerks- und Handarbeitstechniken in packende, authentische Exponate. Auch durch die oft gedachte Diskrepanz textiles Material / Handarbeitstechnik und Problem-Thematik sind Tanja Boukal Werke gelungen, die in vieler Hinsicht zum Nachdenken anregen.
Dem Kunstverein Augsburg e.V. ist für diese Ausstellung ganz ausdrücklich zu danken!
Besuch absolut empfehlenswert!
Abbildungen von einigen der ertrunkenen Flüchtlingskinder, angespült am Strand der Insel Samos im Mittelmeer.
***
Info:
10. April – 4. Juni 2016
Tanja Boukal
“Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten”
Kunstverein Augsburg e.V.
Holbeinhaus
Vorderer Lech 20
86150 Augsburg
Öffnungszeiten:
Di – So: 11 – 17 Uhr
Führung:
So, 22. Mai 2016, 14 Uhr
Lange Kunstnacht:
Sa, 4. Juni 2016
Text und Fotos (soweit nicht anders angegeben): © 2016 Ursula Brenner, Friedberg
Ich finde es toll, wenn Textilkünstlerinnen sich mit diesem Thema befassen und es so einprägsam verdeutlichen. Diese kreative Umsetzung geht einem nicht mehr aus dem Kopf.
Die Berichte über die Textilausstellungen, sind immer sehr gut-danke dafür!
Liebe Grüße
Sabina
halli hallo sabina,
ganz vielen dank für dein positives feedback, besonders auch im namen von ursula brenner. ich denke, dass ich auch für uns beide sprechen kann, wenn ich sage, dass speziell diese ausstellung eine breite wahrnehmung und aufmerksamkeit verdient.
beste grüsse
gudrun
Einzigartig, Sensationell, unter die Haut gehend!
Herzlichen Glückwunsch an Tanja Boukal für diese sehr aussergewöhnlichen Arbeiten und den Mut dazu.
Viele Grüße,
Jutta Hellbach
halli hallo jutta,
1000 dank! dachte ich es mir, dass du dich für diesen themenkreis interessierst, arbeitest du doch auch am thema ‘refugees’, nicht wahr? und es ist ja auch klar, dass dies jeder auf seine weise interpretiert. mir persönlich imponiert, dass hier ein ‘hartes’ sujet mit ‘weichen’ materialien umgesetzt wurde. es ist echt spannend, was wir diesbezüglich noch zu sehen bekommen.
ein schönes wochenende und
beste grüsse,
gudrun
halli hallo zusammen,
vielen dank euch beiden, annette und wiebke!
mir geht das thema auch unter die haut und ich finde es höchste zeit, dass eine ernsthafte künstlerische auseinandersetzung den weg hier in den blog gefunden hat. insofern rannte uschi brenner bei mir offene türen ein, erst mit ihrem hinweis und natürlich besonders jetzt mit ihrem informativen bericht. sehr gut, dass der BERNINA blog auch für solches offen ist und die beiträge gelesen und verstanden werden.
beste grüsse
gudrun
Hallo Gudrun!
Diesen Ausspruch habe ich auch noch direkt im Ohr.
Du zeigst uns hier die Arbeiten zu einem sehr schwierigen, zeitnahen Thema.
Hut ab vor dieser Künstlerin!
Liebe Grüße
Wiebke
Hallo Gudrun,
vielen Dank für diesen sehr informativen Bericht!
Liebe Grüße Annette.