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Jeder Stich ist kunstvollendet! Das BERNINA Lied von 1937

Liebe Leserinnen, liebe Leser, einigen von Euch ist vermutlich bekannt, dass es ein BERNINA Lied gibt. Der Song wurde in Neuseeland als Jingle für Fernsehwerbung produziert und war dort in den Siebziger- und Achtzigerjahren landauf, landab zu hören. Ein echter Ohrwurm. Wer in dieser Zeit in Neuseeland lebte, kann mitträllern: “BERNINA, BERNINA, so easy, simple and versatile … “. Es gibt sogar Neuseeländer, die sich beschweren, dass sie den Song nicht mehr aus dem Kopf kriegen. Bei einem Stück, das rund fünfzig Jahre alt ist, muss man da schon von einem chronischen Leiden sprechen. Hier ein Beispiel eines TV-Spots aus dieser Zeit – anzuhören auf eigene Gefahr:

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Das kanntet Ihr, nicht wahr? Aber wusstet Ihr auch, dass es ein zweites, deutlich älteres BERNINA Lied gibt? 

Ich hatte selber nie etwas von diesem früheren Lied gehört, bis ich eines Tages einen Schwung historischer Dokumente zur Archivierung erhielt, darunter Fotos, eine Audiokassette mit Festtagsansprachen und, als Highlight, eine Schellackplatte von 1937. Hier seht Ihr die Platte, wie sie bei mir auf dem Schreibtisch landete:

Die eine Seite verspricht eine Rede von Willi Brütsch, dem damaligen Leiter des BERNINA Vertriebs in der Schweiz, ausserdem das Thurgauerlied, die inoffizielle Hymne des Kantons Thurgau, gesungen von Männerchor “Frohsinn” Steckborn. Die andere Seite das BERNINA Lied.

“Drum BERNINA, nur BERNINA, sie gehört der Schweizerfrau”, so lautet gemäss Plattenhülle der Refrain. Klar, dass wir das hören wollten!

Auf dem roten Label in der Mitte der Scheibe steht: “Gesungen von den Arbeitern der Nähmaschinen-Fabrik unter Mitwirkung des Männerchors ‘Frohsinn’ Steckborn”. Muskulöse Mechaniker mit schmutzigen Händen und goldenen Kehlen? Es sollte sich herausstellen, dass die Information auf dem Label irreführend ist. Vielleicht wurde sogar bewusst ein wenig geflunkert. Dazu später mehr.

Schellack wurde im 19. Jahrhundert erfunden und ersetzte ab 1896 Hartgummi als als Pressmasse für Platten. Das neue Material, ursprünglich für Isolatoren bestimmt, war hart und verschleissfest. Platten hielten nun länger und klangen besser. Schellack hatte aber auch einen Nachteil: Das Material ist spröde und bricht leicht. 

Im Fall der Platte, die mir vorlag, überwogen die Nachteile des Schellacks dessen Vorteile leider bei weitem: Meine Platte hatte einen Sprung. Besser gesagt, sie war gebrochen.

Nun beginnt eine Recherche in der Schellackwelt. Über Google finde ich schallplatten-digitalisieren.ch und schreibe dem Website-Betreiber Martin Grueber: Was meinen Sie, lässt sich meine Platte reparieren? Es stellt sich heraus, dass Grueber der Marke BERNINA zugewandt ist. Seine aus den Fünfzigerjahren stammende BERNINA konnte kürzlich mit 70-jährigen Ersatzteilen flottgemacht werden. Wir haben bei ihm also einen Stein im Brett. Trotzdem will Grueber keine positive Diagnose stellen: “Ich vermute eher nicht, dass ein solcher Sprung zu retten ist.” Er gibt mir den Tipp, mit der Stiftung Public Domain Kontakt aufzunehmen.

Die Stiftung besitzt rund 70’000 Schellackplatten und will deren Inhalt für künftige Generationen verfügbar machen. Platte für Platte wird digitalisiert und ins Internet hochgeladen. Das ist möglich, weil bei den meisten Werken das Copyright abgelaufen ist. Mehr als 13’500 Platten wurden so schon in ehrenamtlicher Arbeit aufgenommen und im Schellack-Plattenarchiv online zur Verfügung gestellt. Das BERNINA Lied ist nicht dabei. Urs Marti, Stiftungsrat der Public Domain, schreibt mir: “Das Label – oder auch das Stichwort – ‘Bernina’ habe ich unserem Archiv nicht gefunden. Ich habe auch in der Fonoteca, der schweizerischen Nationalphonothek, gesucht. Ihre Platte ist auch da nicht aufgeführt. Es handelt sich anscheinend um eine Rarität!” Er verweist auf einen Mann, der mir vielleicht weiterhelfen könne: Hans Peter Wössner.

Hans Peter Wössner, lerne ich, ist der Mann für Rares, die Koryphäe unter Schellackkennern, ein Jäger vergessener Schätze, gewissermassen der helvetische Indiana Jones unter den Plattensammlern. Der Germanist und ehemalige Gymnasiallehrer besitzt die grösste Sammlung Schweizer Volksmusik auf Schellack. Im folgenden Zeitungsartikel wird er portraitiert: “Einer lebt den Jagdtrieb kulturell wertvoll aus”. Ich rufe bei Wössner an, und schon nach dem zweiten Klingeln ist er am Apparat:

– Grüezi, Herr Wössner! Fluri hier von der Firma BERNINA; wir sind Hersteller von Nähmaschinen …
Ihm sei der Name BERNINA bekannt, unterbricht mich Wössner, wir hätten doch 1938 diese Platte herausgebracht.
– Äh, ja, darum rufe ich an. Haben Sie die Platte?
– Aber natürlich!
– Dürfte ich sie ausleihen, um sie digitalisieren zu lassen?
– Nein, sicher nicht, die Platte gebe ich nicht aus den Händen!

Das sei unter Sammlern üblich, so Woessner weiter. Keine Platte verlässt das Haus! Aber: Sehr gerne dürfe ich das Lied bei ihm anhören und aufnehmen. Er erhalte regelmässig Besuch von jungen Leuten, die sich für alte Aufnahmen interessieren. Wössner versteckt seinen Schatz nicht, sondern öffnet seine Sammlung für Musikinteressierte und Journalisten. Sogar das Schweizer Fernsehen war schon zu Gast. 

Jetzt treffen sich Experte eins und Experte drei. Martin Grueber fährt mit seinem Analog-Digital-Wandler zu Hans Peter Woessner. Wenig später schreibt er mir: “Ich war heute bei Hans Peter Woessner und wir hatten gewissermassen ein Käferfest in seinem Auditorium mit drei (!) Plattenspielern.” Per Downloadlink erhalte ich die Aufnahme. Zu dritt stehen wir an meinem Pult und hören zum ersten Mal das BERNINA Lied. Gänsehaut!

Inzwischen haben wir das Stück für Euch auf Youtube geladen. Der Inhalt einer 25 cm grossen Scheibe aus Schellack, Russ und Baumwollflock hat es ins grösste Videoportal der Gegenwart rübergeschafft. Hört selbst:

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Wenn Ihr im Youtube-Player auf das Untertitel-Icon klickt, wird der Liedtext eingeblendet.

Auch das Thurgauerlied erhalte ich von Martin Grueber: 

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Wie es scheint, war sich der Männerchor nicht ganz einig, ob es nun “der Sommer” oder “die Sonne” ist, welche die hiesigen Fluren in Gold taucht. Ein kleiner Zickzack im Gesang, der ansonsten so kunstvollendet ist wie ein Stich mit der BERNINA Nähmaschine. 

… selbst die Rede von Willi Brütsch wird mir zu Verfügung gestellt:

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Der patriotische Ton der Ansprache – Switzerland first! – ist im historischen Kontext zu verstehen. Die Welt stand vor dem zweiten Weltkrieg. Angesichts der Bedrohungen, die der Blick ins Ausland zeigte, wollten die Schweizer das Inländische schützen und stärken. Es war die Geburtsstunde der geistigen Landesverteidigung. Die Nähmaschinenindustrie wurde dabei nicht ausgenommen.

In seiner Ansprache feiert Willi Brütsch die Fabrikation der 20’000. BERNINA Nähmaschine im Oktober 1937.

Fünf Jahre zuvor, im Jahr 1932, hatte unser Unternehmen die Fertigung einer Haushaltnähmaschine in Angriff genommen. Das neue Produkt hiess BERNINA Klasse 105. Firmeninhaber Fritz Gegauf hatte es nach dem höchsten Gipfel der Ostalpen benannt. Der Unternehmer war mit dem Produktionsstart ein Risiko eingegangen. Notgedrungen, muss man sagen. Zuvor hatte die Steckborner Fabrik primär Hohlsaumnähmaschinen hergestellt, welche für die industrielle Nutzung bestimmt waren und aus der Schweiz in die ganze Welt verkauft wurden. Ein Exportschlager seit der Erfindung im Jahr 1893! Mit der Weltwirtschaftskrise in Folge des Börsenkrachs 1929 nimmt die Hohlsaum-Herrlichkeit ein Ende. Der Niedergang der Textilindustrie in Europa und die hohen Zölle, die das Ausland auf Schweizer Importe erhebt, setzen dem Geschäft zu. Fritz Gegauf sucht einen Weg aus der Krise und wagt sich an die Konstruktion einer Haushaltnähmaschine. Er nimmt einen radikalen Strategiewechsel vor – weg vom Industriekunden, hin zur Endkundin. Sein Fokus liegt zunächst auf dem Schweizer Markt. Dieser wurde damals von deutschen und amerikanischen Marken dominiert. Gegaufs Ziel: Schweizer Hausfrauen sollten Schweizer Nähmaschinen kaufen.

Das Wagnis gelingt. Die in der Gegauf-Fabrik nach Plänen des St. Galler Konstrukteurs Wilhelm Brütsch gebaute Maschine setzt sich gegen die ausländische Konkurrenz durch. Wichtigen Anteil am Erfolg hat Wilhelms Sohn Willi Brütsch, der auf unserer Platte zu hören ist. Er organisierte den Vertrieb der neuen Maschine in der Schweiz, gewinnt die sogenannten “Arbeitslehrerinnen” als Influencerinnen und baut ein starkes Vertreternetz auf. 1931 wurden fast 24’000 ausländische Haushaltnähmaschinen die Schweiz importiert, so Brütsch Junior in seiner Rede. Fünf Jahre nach Produktionsstart der BERNINA Klasse 105, zum Zeitpunkt von Brütschs Ansprache, sind es noch 12’000 ausländische Maschinen. BERNINA hat in kurzer Zeit einen grossen Teil des Schweizer Marktes erobert.

Das BERNINA Lied ist ein Beispiel für die geschickte Vermarktung der BERNINA Klasse 105 in der Schweiz.

Das führt uns zurück zum Text auf dem Plattenlabel. “Gesungen von den Arbeitern der Nähmaschinenfabrik unter Mitwirkung des Männerchors ‘Frohsinn’ Steckborn im Oktober 1937”, steht dort. Hans Peter Woessner, der zu jeder seiner Platten aufwändige Recherchen betreibt, hat auf seine Plattenhülle notiert: “Achtung: Text ist als Rückblick auf die 20’000-Feier und nicht als diskographischer Hinweis auf die gegenwärtige Aufnahme gemeint. Die Arbeiter sind hier bei der Aufnahme nicht mehr dabei, nur der Männerchor Frohsinn.”

Sicher hat Woessner recht. Und ebenso sicher ist, dass solche Finessen für die Kundin von anno dazumal keine Rolle spielten. Eher wird sich die Schweizer Hausfrau an ihrer BERNINA über die musischen Qualitäten der BERNINA Belegschaft gefreut haben. Wer so schön singt, baut gewiss die besten Nähmaschinen! Und sehen die Arbeiter nicht kernig aus?

Auch für die guten alten Zeiten gilt: Nicht alles ist, wie es scheint. Ob sich im Koffer, den die Frau im neuseeländischen TV-Spot so leichthändig schwingt, wirklich eine BERNINA 830 record befand? So oder so: In beiden BERNINA Liedern, dem von 1937 und dem aus den Siebzigern, steckt ein Zauber. Und nicht selten, wenn mit Glitzerstaub hantiert wird, haben Werbung und Marketing die Finger im Spiel. Wir meinen: Wenn das beworbene Produkt dem Zauber gerecht wird, ist da nichts Schlechtes dabei. An Profanem besteht im Alltag schliesslich kein Mangel. Oder was meint Ihr?

Lieber Gruss
Matthias

PS: Ein herzliches Dankeschön an Martin Grueber, Urs Marti und Hans Peter Woessner, ohne deren Leidenschaft und Expertise es bei einer gebrochenen Platte im Steckborner Archiv geblieben wäre. Ihnen ist zu verdanken, dass wir das BERNINA Lied heute kennen und mit Euch teilen dürfen.

PPS: Inzwischen hat es das BERNINA Lied ins Online-Schellack-Archiv der Stiftung Public Domain geschafft: https://www.publicdomainpool.org/de/track.html?sfpdid=24-HW0001A. Wir freuen uns sehr darüber!

PPPS: Hans Peter Woessner geht davon aus, dass die BERNINA Schellackplatte nicht 1937 gepresst wurde, wie Hülle und Label glauben machen, sondern 1938. Sicher hat er auch darin recht; wenn es um Schellack geht, glauben wir ihm alles. Fritz Gegauf singt den zweiten Bass auf der Platte? Gekauft! 😊

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