Ausgediente Berliner Telefonbücher, Einladungskarten von Pariser Modeschauen und Briefmarken aus Ost- und Westdeutschland – alles nur altes Papier?
Stephan Hann vor Silver Bird, Tablettenverpackungen
Das könnte man meinen. Für Stephan Hann aber ist das Genannte mal mehr, mal weniger deutlich im Vordergrund stehendes Ausgangsmaterial für seine „Modeskulpturen“. Er fertigt daraus Kleider, durchaus tragbare Mode.
Paradise Island, 2000, Fotopapier
Seine nach den Regeln der Schneiderkunst gefertigten Kleider sind so filigran und kunstvoll hergestellt, dass sie oft erst auf den zweiten Blick ihren Werkstoff verraten.
Milchmädchen, 2003, Tetra Pak, Foto: Itai Margula
Tetra-Verpackungen, Filmstreifen, Tonbänder, Architekturpläne – …
Croisette, 2004, Zelluloid, Foto: Itai Margula
… Inspiration pur für den Berliner Modekünstler, der diese „Stoffe“ ganz bewusst aus ihrem Kontext löst und ihnen neue ästhetische Eigenschaften zuweist. Er regt dadurch dazu an, ein Bewusstsein für die Vergänglichkeit und Nachhaltigkeit von Materialien zu entwickeln und stellt die Fragen nach Wert und Wertigkeit neu.
Eine “Bilderwand” im Karlsruher Museum beim Markt. Sie verweist auf die Ethik, die Stephan Hanns künstlerischer Arbeit zugrunde liegt: Die Wertschätzung von ausgedienten, nicht der Norm entsprechenden Dingen – Fundstücke, alte Bilder, Mode – an denen das Leben seine Spuren hinterlassen hat.
Die Tragbarkeit seiner Modelle ist jedoch nicht im Sinne einer Verkaufskollektion zu verstehen. Für den Künstler stellt ein Kleid ein Medium dar, das auf elegant-versteckte Weise eine Botschaft in sich trägt.
Impression aus der Ausstellung mit Blick auf die Modeobjekte der Kollektion Tetra Pak
Erst auf den zweiten Blick gelangt sie an die Oberfläche, schafft so inhaltliches Fundament. Ein aus silbern glänzenden Tablettenverpackungen bestehender Overall, der wie eine Rüstung wirkt, spielt etwa auf den Tablettenkonsum in unserer Gesellschaft an – er kann schützen und heilen, aber auch zerstören.
City Girl mit einem Oberteil aus Bauabstandshaltern
Das Museum beim Markt in Karlsruhe zeigt noch bis zum 9. Juni 2013 die Sonderausstellung „Mode – Medium – Material. Anziehende Objekte von Stephan Hann“ …
Modeskulpturen aus Berliner Telefonbuchseiten und Plastiktüten
… – eine Werkschau von knapp 80 Arbeiten des Künstlers, der sein Handwerk als Herrenmassschneider an der Deutschen Oper Berlin erlernt, später Kostüm- und Bühnenbild an der Kunsthochschule Berlin-Weissensee studiert und …
Objekte aus der Zelluloid Kollektion
… von 2000 – 2006 für verschiedene Häuser in Paris gearbeitet hat.
Exponate aus der Zelluloid Kollektion
Die Wertschätzung des Materials – das ist Stephan Hanns künstlerischer Leitgedanke. Grundlage seiner Objekte sind Materialeigenschaften wie etwa Oberflächenwirkung oder Textur.
Impression aus der Ausstellung
Die zunächst gedanklich und dann in einer Skizze formulierte Idee wird auf der Schneiderpuppe weiterentwickelt. Durch das modellierende Erarbeiten des Kleides am Körper ist das Kleid somit von Anbeginn – buchstäblich im Wortsinne – auf den Körper bezogen. Denn der menschliche Körper ist für Hann grundlegender Ausgangspunkt für seine Arbeiten; er bildet das stützende Fundament für seine Modeskulpturen und verleiht ihnen Lebendigkeit.
Modeobjekte aus der Tape Kollektion
Neben seinen phantasievollen Kreationen aus Alltagsmaterialien entwirft Stephan Hann auch Kollektionen im Auftrag von bekannten Unternehmen.
Casino, 1998, Zelluloid, Tetra Pak, Foto: Itai Margula
So entstanden „Outfits“ für Mademoiselle Moët oder Mademoiselle Chandon aus Etiketten und Verschlüssen für einen französischen Champagnerhersteller. Schnitt und Silhouette greifen durchaus auf die Kostümgeschichte zurück, auch wenn Einkaufstüten des Warenhauses Karstadt eingesetzt werden.
Exponate aus der Karstadt Kollektion
Auf rund 300 Quadratmetern können die Besucher des Karlsruher Museums beim Markt eintauchen in diesen anziehenden, faszinierenden, glamourösen und gleichzeitig so nachdenklich machenden Mode-Kosmos des Stephan Hann. Allemal sehr sehenswert!
La Defense, 1999, Tape, Architekturpläne, Foto: Itai Margula
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Info:
23. Februar – 9. Juni 2013
Mode – Medium – Material. Anziehende Objekte von Stephan Hann
Sonderausstellung im Museum beim Markt
Karl-Friedrich-Strasse 6
76133 Karlsruhe
Öffnungszeiten:
Di – Do: 11 – 17 Uhr
Fr – So, Feiertage: 10 – 18 Uhr
Infos und Fotos freundlicherweise vom Badischen Landesmuseum zur Verfügung gestellt – vielen Dank!
Hallo Gudrun,
in Verbindung mit der Nadelwelt werde ich versuchen, diese Ausstellung anzuschauen. Hört und sieht sich toll an. Vielen Dank für den Bericht.
Liebe Grüße
Martina
halli hallo,
ja, diese ausstellung lohnt wirklich einen besuch.
zusammen mit der nadelwelt – das bietet sich an. wenn man gut zu fuss ist, ist es ein gerader weg von schätzungsweise 15 minuten (ohne die baustellen-hindernisse, die überall in KA vorhanden sind und auch nicht verschwunden sein werden. so schnell sind die tunnel für die drei unterirdischen strassenbahnhaltestellen und ihre begleiterscheinungen nicht fertig …)
also, gut zu fuss und nicht zu müde vom nadelwelt-geschehen, an dem ich auch wieder mit einer ausstellung beteiligt bin. textile news: freiheit wird dort zu sehen sein und ich freue mich schon sehr!
beste grüsse
gudrun
Grandios, einfach nur grandios.
Danke fürs Zeigen, Gudrun, diese Ausstellung werde ich mir anschauen, höchstwahrscheinlich in Kombination mit der Nadelwelt im April.
Lieben Gruß,
Jutta
Guten Morgen Gudrun,
danke für diesen interessanten Bericht, diese Ausstellung werde ich mir definitiv nicht entgehen lassen!
Ich danke Dir!
Liebe Grüße Luitgard