Der Panzer im Strickkleid – ein eindrückliches Zeichen für den Frieden – hat unübersehbar vor dem Eingang des Museums Position bezogen und ist Teil der noch bis zum 29. November 2015 laufenden Ausstellung ‘KUNST | STOFF’ im Staatlichen Textil- und Industriemuseum Augsburg (tim).
17 Künstlerinnen und Künstler waren dazu eingeladen, das tim im Rahmen der Ausstellung ästhetisch auf den Kopf zu stellen. Mit der Schau wagt das Museum – fünf Jahre nach seiner Eröffnung – eine neue kulturelle Positionsbestimmung. Die Dauerausstellung des tim, die von der Geschichte der Produktionsstätten der einst blühenden Augsburger Textilfabrikation …
… von den Menschen und Maschinen, von Mustern und Mode erzählt, wird mit herausfordernden Interventionen aufgebrochen. Die 30 Projekte sind eindringliche Arbeiten, die mit den textilen, politischen und sozialen Themenkreisen des Hauses in einen Dialog treten.
Esther Glück setzt sich z.B. mit dem Schicksal einer Augsburger jüdischen Familie während des Holocausts auseinander und wählt für ihre Darstellung kein textiles Material, sondern natürliche, vergängliche Stoffe wie das Laub vom Jüdischen Friedhof in Augsburg – ein Versuch, das Nicht-Darstellbare darzustellen.
Die Künstler setzen inmitten der Webstühle und Ausstellungsvitrinen Überraschungsmomente und bringen die Besucher zum Nachdenken. Dies beginnt schon im Foyer mit den ‘Bombenteppichen’ von Rose Stach oder dem Objekt ‘Neuronerv’ von Carolina Kreusch, das über den Köpfen der Besucher schwebt.
Die Orientteppiche wurden so mit Farbe überdeckt, dass sich Panzer, Kampfjets oder Bomben herausschälen – nicht nur ein Verweis auf Kriegsschauplätze, sondern sie verlegen den ‘battleground’ in unsere Wohnzimmer, wo sie durch die Medien schon längst angekommen sind.
Das organisch wirkende Gebilde ‘Neuronerv’ von Carolina Kreusch gibt Rätsel auf. Seine unförmige Gestalt kontrastiert mit der geradlinigen Museumsarchitektur, scheint von der Last einer Funktion befreit zu sein und vielleicht auch zugleich von der Aufgabe, etwas darstellen zu müssen. Oder versucht das aus Pappstreifen verwebte, nach einer Form ringende Konstrukt mit der Umwelt in Kontakt zu treten?
Der Rundgang gleicht einem roten Faden. Er führt mitten durch die Thematik des Hauses, verknüpft z.B. alte Industriemaschinen – wie die Karde – mit den Exponaten, ist gleichzeitig aber weit gespannt. Scheint das textile Wesen, das Elizabeth Aro schuf, von der Karde Besitz zu ergreifen, sie zu überwuchern?
Es leben die Gegensätze: organisch-fliessende Formensprache des Stoffwesens versus streng lineare Geometrie der Maschine. Weichheit und Wärme des geblümten Samts versus Härte und Kälte des Stahls. Natur versus Technik? Die Künstlerin sieht, wie der Titel ‘Hostage – Suspended Between Imprisonment and Aspiration for Freedom’ schon verrät, den Menschen eingespannt zwischen dem Zwang des Notwendigen und dem Drang zur Freiheit.
In ‘Kryptogramm. 15.001’ experimentiert Christine Ott mit einem Element der Moderne, der Speicherkarte. Seit es Joseph Marie Jacquard zu Anfang des 19. Jahrhunderts mit Hilfe der Lochkarte ermöglichte, aufwendige Muster in der Weberei herzustellen, zählt seine auf der Grundlage des binären Systems arbeitende Erfindung zu den historischen Ausgangspunkten der modernen Computerisierung.
Ott hat das typische Aussehen einer Lochkarte auf eine gut acht Meter lange Stoffbahn übertragen und damit den Informationen einspeisenden Code zum künstlerischen Gegenstand erhoben. Sie lässt damit ein Medium zur Bearbeitung von Realität selbst zur Realität werden. Es ist ein Produkt, das sich nicht mehr maschinell lesen lässt und keinen funktionalen Sinn mehr hat. Der ansonsten lesbare Code mit seiner binären Sprache ist unlesbar geworden.
Die multimediale Komposition von Nicolas Constantin ‘Variations IX’ fragt nach prägenden Mustern, wie sie im Wechselspiel des Menschen mit den heutigen Medien auftreten.
Die eigene Freiheit sowie die Abhängigkeit von der medial vermittelten Aktivität kann experimentell – über einen sensorischen Boden – erkundet werden, bis sich Bilder und Sounds gänzlich unabhängig machen, sich völlig auflösen und der Besucher sich in den nun abgeschalteten und daher schwarzen Bildschirmen gespiegelt wiederfindet – Selbst-Reflektion.
Athene ist eine herausragende weibliche Figur aus der griechischen Mythologie. Stefanie Unruh ordnet ihr einen mit Nadeln übersäten Bikini zu und versucht damit, die überlieferten weiblichen Rollenbilder auszuhebeln. Mit dem bloss als Textil präsentierten Bikini, der nicht von einer weiblichen Figur ausgefüllt wird, lässt Unruh die meist männliche Erwartungshaltung von tadelloser Schönheit und erotischer Sinnlichkeit ins Leere laufen.
Ebenfalls filmisch inszeniert Felix Weinold in seiner Arbeit ‘Wühltisch’ das westliche Konsumverhalten mit einem überraschenden sinngebenden Ende, das unweigerlich zum Nachdenken über die Gier nach Billigwaren bis hin zur Selbstzerstörung anregt.
Noch drastischer dargestellt wird dieses Thema in der Videoarbeit ‘Haul’ von Nausikaa Hacker in Kooperation mit dem in Bangladesch gebürtigen Dokumentarfilmer Shaheen Dill-Riaz.
Noch sehr gut in Erinnerung ist uns der Fabrikeinsturz im April 2013 in Bangladesch, bei dem über 1100 Menschen ums Leben kamen. Davon erzählt Dill-Riaz in seinem Film ‘Fernglück’; ein Ausschnitt daraus zeigt ein Interview mit Rosina, einer Textilarbeiterin, die tagelang unter den Trümmern lag und dabei ihren linken Arm verlor. Diesem Interview stellt Hacker auf dem zweiten Bildschirm einen Youtube-Clip gegenüber, in dem eine österreichische Studentin stolz von ihrem ‘haul’ berichtet, einem Grosseinkauf beim Textildiscounter zu niedrigsten Preisen und führt so dem Besucher den globalen Zusammenhang von Produktion und Konsumtion ohne moralischen Kommentar vor Augen. Dieser erübrigt sich angesichts dieser filmischen Konfrontation ohnehin.
Das Objekt ‘Neuronerv’ von Carolina Kreusch steht damit vordergründig nicht im Zusammenhang. Aber die Ausstellung verändert die Wahrnehmung. Das vielfach verspannte und vernetzte Gebilde könnte zum Monstrum mutieren, das die positiven wie die negativen Seiten der Globalisierung symbolisiert.
Verpassen sollte man zudem nicht die faszinierende Lichtprojektion ‘Basilika’ im Nebengebäude.
Insgesamt erwartet den Besucher eine sehr sehenswerte Ausstellung, die aktuellen Fragen der Gesellschaft nachspürt, ein sehr anregender KUNST | STOFF.
Ein Katalog ist erhältlich.
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Info:
22. Mai – 29. November 2015
KUNST | STOFF
tim | Staatliches Textil- und Industriemuseum Augsburg
Augsburger Kammgarnspinnerei (AKS)
Provinostrasse 46
86153 Augsburg
Öffnungszeiten:
Di – So: 9 – 18 Uhr
Mo geschlossen
Fotos: © 2015 Gudrun Heinz mit freundlicher Erlaubnis des Veranstalters
Vielen Dank für den Bericht mit seinen interessanten Erklärungen:)
Schade, dass die Ausstellung nicht mehr lange zu sehen ist.
Herzliche Grüße Birgit
hall ihallo birgit,
vielen dank für dein feedback. in der tat eine sehr interessante vielschichtige ausstellung mit künstlerischem anspruch und unbedingt sehenswert, weswegen ich auch schon mehrfach darauf hingewiesen hatte. wer’s schafft, sollte noch hin!
beste grüsse
gudrun
halli hallo,
vielen dank für eure rückmeldungen, über die ich mich sehr freue. auch freut mich, dass ich im moment wieder zugang zum web habe …
beste grüsse
gudrun
Hallo Gudrun,
die Lochkarte ist der Knaller. Danke für den Bericht.
Liebe Grüße
Birgit
Hallo Gudrun,
vielen Dank für den Tipp 🙂
Liebes Grüßle Annette.