Die erste Assoziation zu ‘fadenSpannung’ ist mit grosser Wahrscheinlichkeit die Nähmaschine. An der Nähmaschine entscheidet die richtige Fadenspannung über eine gute oder eine schlechte Naht. Fehler bei der Einstellung zur Fadenspannung führen zu einigen klassischen Problemen: lose Nähte, Schlingen, Stoffe, die sich zusammenziehen oder beulen und vieles mehr. Aber genau mit diesen Fehlern und dem bewussten Verstoss gegen das perfekte Ergebnis, dem Spiel mit dem Zufall, arbeitet Claudia Kallscheuer. Im Weiteren hat sie die gezeichnete und geschriebene Linie konsequent durch die genähte Linie, mit all ihren Spannungsebenen, ersetzt.
Schreiben und Zeichnen an der Nähmaschine, Sticken und Nähen und Fäden auch mal hängen lassen – ungewöhnliche Ausdrucksformen in der Kunst Claudia Kallscheuers. Kleinigkeiten im Wert hervorzuheben, Werte die wir meist nicht mehr beachten. Claudia Kallscheuer entrückt das scheinbar Belanglose, prozesshaft, wiederholend, verknüpft mit einem kalkulierten Fadenchaos. Durch die gestickte Umsetzung
erhalten die Arbeiten eine nachdrückliche Relevanz. Fadengeschriebene Botschaften, denen erst das Garn besonderes inhaltliches Gewicht verleiht. Fäden müssen dabei nicht immer vernäht sein, einfach hängen lassen und so die Linien verlängern. So verändern gerade diese Linien immer wieder die von ihr geschaffenen Werke. Und das Sortieren, was von Zeit zu Zeit nötig ist, gehört dazu …
Aussergewöhnlich auch, dass es ihr weniger um die Ober- als um die Unterseite des bestickten Materials geht. Dabei kehrt sie Unteres zuoberst. Sie spielt mit innen und aussen, verkehrt linke und rechte Seite, schafft Unordnung in der Ordnung. Fehler werden eingebaut, Fadenspannungen variiert, Überlagerungen und Verwicklungen im Nähprozess geduldet. Es wird geknotet, wo kein Knoten passt.
Und die Teebeutel? Es sind wie immer die Dinge aus Claudia Kallscheuers Leben. Sie sind gebraucht, tragen die Spuren des Lebens – die Spuren des Tees – und finden normalerweise keine Beachtung mehr, werden entsorgt. Sie rückt sie wieder in den Fokus, denn wir haben oft auch nach Gebrauch einen grossen Nutzen von vielen Dingen – auch von den Teebeuteln. Und dann das schöne, feine und schillernde Material des Seidenorganzas, es fasziniert und findet für einen Augenblick Beachtung.
Claudia Kallscheuer öffnet und sensibilisiert den Blick des Betrachters für das Hintergründige des Alltäglichen. Diese Motive und Themen unseres Lebens führt sie auf feinsinnige und vielschichtige Weise der künstlerischen Reflexion zu.
Damit setzte Claudia Kallscheuer den Impuls nach Künstlern und Künstlerinnen zu schauen, welche den Faden als Linie mit all seinen Spannungsebenen in ihren Arbeiten nutzen.
Noch bis zum 8. Juli 2017 präsentiert die Berliner mianki. Gallery – wie hier bereits angekündigt – die Ausstellung ‘fadenSpannung’, in der sich fünf Künstlerinnen der Linie auf besondere Weise nähern. Die Linien in ihren Werken sind in erster Linie nicht gezeichnet. Die Linien sind genäht, gestickt, verknüpft, gewoben, gespannt, verwickelt, lose, es sind dicke Linien und dünne Linien und das immer in unterschiedlichen Spannungen. Der jeweilige Ansatz der Künstlerinnen ist so unterschiedlich wie die Zeichnungen eines jeden Künstlers ihre ganz eigene Signatur tragen. Da ist das Spiel mit der Fadenspannung, das bewusste Einsetzen von Kett- und Schussfäden, das Arbeiten auf Stoff oder Papier, das Führen der Nadel von Hand oder mit der Maschine, das Verkehren von vorn und hinten. So greift die Linie in den Raum, umspielt diesen auf subtile Weise und erweitert das jeweilige Werk um den Begriff der Skulptur. Dabei eint die unterschiedlichen Positionen das Spiel mit der ‘fadenSpannung’ und das Basiselement: die Linie.
Ausganspunkt der Arbeiten von Angelika Frommherz ist die Stofflichkeit von Farbe und die Materialität der Linie. Die in einer abstrakten, reduzierten Bildsprache gehaltenen Arbeiten schaffen einen dreidimensionalen Bildraum, bzw. werden zum Objekt.
Bei den Farbarbeiten ist es wesentlich, dass die Farbe atmen, sich ausdehnen kann. Es entsteht ein Spannungsverhältnis fein abgestufter Farbtöne, und gleichzeitig eine insgesamt ausgeglichene Gesamtkomposition. Ansammlungen und Schichtungen von Farbe, Papier, Stoff und Garn schaffen Materialität, Fülle, eine Steigerung von Farbintensitäten und komplexe Bildstrukturen.
Die gestickten Zeichnungen, die von Punkt und Linie ausgehen, bilden organische Formen, luftige oder verdichtete Geflechte und Strukturen. Sie sind beidseitig bearbeitet, das Papier ist durchstochen, der Faden, grob oder fein, zieht seine Linien, verknotet sich, bricht ab und setzt neu an, Vorder- und Rückseite sind gleichwertig.
Bei Anna Maria Gawronskis Arbeiten stehen hinter meist klassischen Motiven konzeptionell arrangierte Szenarien, in denen sich Natur und Künstlichkeit gegenüberstehen. Ihre digitalen, nur auf dem Bildschirm flimmernden, nicht fassbaren Fotografien konstruiert Anna Maria Gawronski mittels Jacquardweberei in greifbares, real verwobenes Garn. Oft besitzen die Bilder medial eine zweite Ebene, durch fluoreszierendes Garn oder durch 3D-Technik wird eine sich verändernde Sichtweise möglich.
Die Arbeit ‘Borkener Enten bei Tag und bei Nacht’ spielt mit den Facetten unterschiedlichen Lichts. Anna Maria Gawronski untersucht in ihrer Arbeit die durch Enten beeinflussten Wellen eines Flusses und deren Reflexion des Lichtes zu verschiedenen Tageszeiten. Tag, Nacht, sowie ihre Übergänge, der Sonnenaufgang und die Dämmerung, werden auf vier Jacquardwebereien in je einer symbolisierenden Farbe dargestellt. Die Webereien lehnen sich durch ihre Motivwahl, Ästhetik und Farbwahl an Asiatische Webkunst an. Der tatsächliche Ort des Geschehens ist jedoch die westfälische Stadt Borken, in der die Künstlerin aufgewachsen ist und die heimischen Enten ablichtete.
In Andrea Hilds Arbeiten, die mit dem Überbegriff ‘Memory Shots’ bezeichnet werden können, findet der Versuch statt, das Phänomen ‘Fotoalbum’ in Zeichnungen und Erzählungen zu erfassen – oder vielmehr den Moment, der in der Fotografie festgehalten wird und den der Besitzer des Fotoalbums als ‘erinnerungswürdig’ empfand. Das Ausgangsmaterial entstammt dabei Familienfotoalben, die sie auf Flohmärkten findet. Es sind Porträts, Bilder von Ausflügen und Feiern. Alte Fotografien erwecken ambivalente Gefühle, denn auf der einen Seite wollen sie einem vermitteln, ‘das war genau so’ – das Foto ist der Beweis. Alle lachen. Das war ein schöner Tag. Der Ersteller des Fotoalbums möchte uns genau dies glauben machen. Auf der anderen Seite ist man sich bewusst, dass eine Fotografie nicht die Realität repräsentieren muss. War die Situation (der ‘Memory Shot’) eventuell nur gestellt? In ihren Arbeiten möchte Andrea Hild dabei an der Oberfläche kratzen und das Unausgesprochene, das, was sich da eventuell hinter der Pomade, der Hochsteckfrisur und der Geburtstagstorte verstecken mag, herauskitzeln. So wird die Geschichte, die der Macher des Fotoalbums erzählen wollte, weitergesponnen.
Getrude Stein hat sehr trefflich den Begriff ‘Erzählen’ erklärt: Worte wurden irgendwann erfunden, um eine bestimmte Geschichte zu erzählen. Jahrzehnte oder Jahrhunderte später verwenden wir immer noch die gleichen Worte, aber erzählen eine neue Geschichte. Andrea Hild kann dies exakt auf ihre Arbeitsweise übertragen. Sie verwendet Fotografien, die von einer Person irgendwann einmal gemacht wurden, um damit etwas zu erzählen. Sie löst die Menschen in den Bildern aus ihrem früheren Kontext, kombiniert sie mit anderen Menschen aus anderen Fotografien und erzählt damit eine neue Geschichte.
Das Material, das Andrea Hild dabei verwendet, spiegelt die Merkmale, die der Fotografie zugeschrieben werden, wieder, z.B. ihre Reproduzierbarkeit. Radierungen sowie Zeichnungen auf Transparentpapier können reproduziert werden. Die Wiederholung ist ein immer wiederkehrendes Thema in ihren Motiven. Fäden und Nadeln schlagen dabei die Brücke zur Realität. Sie stehen für Seile, Schlingen, Angenähtes, schlängeln sich durch die einzelnen Transparentpapierschichten und verbinden, die verschiedenen Erzählebenen miteinander. Es entsteht ein greifbareres Geflecht. Optisch, wie auch inhaltlich. Dennoch bleiben sie Metaphern.
Nike Schröders künstlerische Arbeit bewegt sich zwischen Skulptur und Installation, kann aber gleichzeitig als fundamental neue Malerei aufgefasst werden.
Sie bestickt Leinwände in mathematischen Rastern mit sanft angelegten Farbverläufen aus herabhängendem Garn, wobei das eigentliche Bild vor- und unterhalb der schräg abfallend aufgezogenen Leinwand passiert und sich erst dort komplett darstellt. Diese stufenartig geometrische Anordnung der aufgenähten Fäden erlaubt eine Interaktion mit atmosphärischen Umgebungslicht und Windzügen auf unterschiedlichen Ebenen. Es zeigt sich ein natürlich entstandenes kinetisches Spiel aus Leichtigkeit und Schwerkraft, das sich poetisch zu jedem Luftzug bewegt. Ein simultaner Effekt von Erschaffen und sich Auflösen entsteht.
Das Anliegen der Künstlerin ist hier, der Norm der klassischen Malerei zu entgleiten und freien Negativraum mit Gestik zu füllen. Die Werke sind inspiriert von chromatischer Abstraktion, die flächendeckend die Leinwand bespielt, gleichzeitig wird diese Formel durch die Dreidimensionalität des Unterbaus aufgebrochen und in neuen zeitgenössischen Kontext gesetzt.
Diese hybride Bemühung, die die Unterscheidungen zwischen den Disziplinen verwischt, beruht auf der Geschichte der geometrischen abstrakten Malerei, der Skulptur des späten zwanzigsten Jahrhunderts und zeitgenössischen Praktiken in der Installation.
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Info:
19. Mai – 8. Juli 2017
fadenSpannung
Claudia Kallscheuer, Angelika Frommherz, Anna Maria Gawronski, Andrea Hild und Nike Schroeder
mianki. Gallery
Kalckreuthstrasse 15
10777 Berlin
Deutschland
Öffnungszeiten:
Di – Fr: 15 – 19 Uhr
Sa: 11 – 16 Uhr
Fotos und Informationen von der Galerie zur Verfügung gestellt – vielen Dank!
Hallo Gudrun, von “Fadenspannung” bin ich fasziniert. Die Möglichkeiten der Künstlerinnen bei der Gestaltung mit Fäden, von ganz einfachen Ausdrucksweisen z.B.”tägl. Ration”, bis zu den Farbverläufen sind toll.. Da ich im weiteren Sinne auch mit Fäden (Grafik) arbeite, freue ich mich über Entdeckungen , wie andere Künstler immer wieder neue Möglichkeiten finden ,um Neues zu probieren. Sehr herzlichen Dank für Deinen Beitrag.
Viele Grüße von Gudrun
halli hallo gudrun,
freut mich sehr zu lesen, 1000 dank für deinen kommentar. wenn dich diese ausstellung so gepackt hat, dann schau doch noch in die neuen ausstellungstipps für den september 2017
https://blog.bernina.com/de/2017/08/ausstellungstipps-september-2017/
und begib dich auf eine weitere entdeckungstour, z.b. nach gelsenkirchen …
beste grüsse
gudrun
Aussergewöhnlich, spannend, exquisit.
Eine äusserst gelungene Kombination an Künsterlinnen und deren Arbeiten.
Dankeschön fürs Zeigen.
Viele Grüße,
Jutta
halli hallo jutta,
vielen dank! ganz meine meinung!
lass es dir gut gehen und sei mir herzlich gegrüsst,
gudrun