Kreative Artikel zum Thema Quilten

Wettbewerb COWandMore: Ein Brief von Rohgul

Liebe Leserinnen

Im Folgenden – und in einer Reihe weiterer Artikel, die in regelmässigen Abständen hier erscheinen – berichte ich über den Wettbewerb COWandMore und das Stickprogramm Guldusi. Hier findet Ihr alle bisher publizierten Artikel. Die Teilnahme am Wettbewerb ist weiterhin möglich. Ich hoffe auf zahlreiche Teilnahme und freue mich auf Eure Interpretationen des Themas COWandMOre!


Bericht aus Afghanistan

Aus Afghanistan bin ich zurück, und habe gestickte Kühe für den Wettbewerb mitgebracht. Die Sommerreise habe ich in einer Zeit gemacht, in der es dort sehr warm ist. Aber ihr müsst mich nicht bedauern, denn als ich nach Deutschland zurückkam, waren die hiesigen Temperaturen noch höher – so viel zum Klimawandel!

Begrüssen möchte ich Euch mit einer einmaligen Stickerei von Narges. Sie hat von sich aus einen Spruch zugefügt: Betharine Soran dar zendagi Salam ast, „Das schönste Wort im Leben ist Salam (Frieden)“.

Wenn ich solch eine einzigartige Gestaltung ausgehändigt bekomme, bewundere ich die Spontaneität der Frauen, ihr Improvisationstalent und die Leichtigkeit, mit der sie ihr Leben meistern, die sie am Leben hält, obwohl ihr Leben so schwer ist!

Narges Stickerei

Heute möchte ich Euch von Rohgul erzählen, sie ist die älteste Stickerin und seit 2004 dabei (2019 wird das Stickprogramm also seit 15 Jahren bestehen).

In Afghanistan ist es Tradition, die Ältesten in der Familie über alles zu ehren; sie genießen in der Regel eine hohe Autorität, ihre Worte wiegen mehr als die der anderen zusammen.

Rohgul ist eine kleine zierliche Person, immer mit einem – traurigen – Lächeln auf den Lippen, so, als wolle sie sich für etwas entschuldigen. Da sie nichts zu tun hat, verbringt sie den ganzen Tag mit uns. Wir gehen von Dorf zu Dorf und treffen uns für drei Tage in einem zentral gelegenen Hof bei einer Stickerin, die genügend Platz hat für alle Stickerinnen dieses Dorfes. Während des ganzen Tages treffen sie hier ein, so wie es bei ihnen passt. Rohgul trifft fast immer als erste ein und am Ende des Tages geht sie als letzte und hat immer noch eine Bitte an mich. Beim letzten Besuch teilte sie mir gleich mit, dass ihr Stickrahmen zerbrochen ist, und sie fragte, ob ich ihn ersetzen könne.

Stickerei von Rohgul: Kuh mit Kind, das grüßt

Vor einigen Jahren hat sie mir von sich erzählt. Sie hatte jung geheiratet, bekam aber kein Kind, deshalb heiratete ihr Mann eine zweite Frau. Diese gebar ihm nur einen Sohn, den beide Frauen gemeinsam großzogen.

Als junger Mann heiratete er und gründete eine eigene Familie, die jetzt mit der zweiten Frau zusammenlebt. Rohgul lebt seitdem zwar auf demselben Grundstück, jedoch allein in einer separaten Behausung. Sie (über)lebt mit extrem wenig Geld.

Stickerei von Rohgul: Die Kuh hat eine große Blume gefressen

Ihre Stickerei ist grundsächlich sehr naiv, zurzeit stickt sie blumige Kühe, die aussehen, als ob sie sich von Blumen ernährten: blumige Innereien und blumiges Fell, ein besonders buntes In- und Outfit, das dem Tier einen sympathischen Look verleiht. Rohguls Stickereien, nicht nur ihre Kühe, sind immer BUNT und FRÖHLICH. Vielleicht verleiht ihre positive Einstellung ihr die Stärke, die Widrigkeiten des Lebens zu meistern.

Mir ist es immer wieder ein Rätsel, wie die Frauen ihre schweren Schicksale ertragen und all die Prüfungen und Rückschläge meistern. Trotz allem gehen sie lachend, zumindest lächelnd, durch den Tag. Das sollte uns privilegierten EuropäerInnen eine Lehre sein!

Stickerei von Rohgul: Die Kuh hat Wildblumen gefressen

 

An einer weiteren Kuh, die uns direkt in die Augen schaut (diesmal mit drei brav eingereihten Blumen), erkennt man ihre Stickstiche sehr gut:

Stickerei von Rohgul: Kuh mit drei Blumen

Hier hat sie eine rustikal ausgeführte Lochstickerei mit einer Knopflochstickerei (die drei Blumen) kombiniert. Die weiteren Flächen sind ausgefüllt mit Kettstich und Klosterstich. Hier sehen wir, wie unbeschwert Rohgul mit den Stichen spielt, das Ergebnis ähnelt einer mit Buntstiften gemalten Zeichnung.

Nicht anders als in Europa besteht die Aufgabe einer Kuh darin, Milch zu produzieren. Immer mehr Frauen auf den Dörfern haben in den warmen Monaten eine Milchkuh, Rohgul allerdings nicht. Aus der Milch stellen die Frauen sofort Joghurt her, da es in der Hitze dort ohne Kühlschränke nicht möglich ist, die Milch anders aufzubewahren. Dieser Joghurt wird von der Familie selbst verspeist oder an Nachbarn (ohne Kuh) verkauft.

Beim Melken

Das Kalb darf erst trinken, wenn die beste Milch schon verwertet wurde. Wartend ist es unmittelbar daneben und angebunden. Eine Gratwanderung, wer was bekommt, weil das Kalb auch wachsen muss, um später verkauft zu werden.

Kuh mit Kalb

Mit dieser letzten bunten Kuh mit prallem Euter verabschiedete ich mich von Rohgul. Am Ende des Tages konnte ich ihr heimlich einen neuen Stickrahmen überreichen.

Bei solchen Maßnahmen muss ich sehr diskret vorgehen. Denn wenn ich einer Frau etwas schenke, dann müsste ich eigentlich bei den 200 anderen Frauen das Gleiche tun. Holzstickrahmen können zwar auf den Bazaren gekauft werden, allerdings ist deren Qualität erschreckend schlecht. Da ich dies vor Jahren erkannt hatte, habe ich jeder Stickerin schon dreimal einen Stickrahmen überreicht. Diese wurden aus China nach Deutschland importiert und dann zurück gen Osten in die afghanischen Dörfer befördert, eine Expedition!

Stickrahmen willkommen!

Diese aufwändige logistische Aktion bietet den Anlass zu folgendem Appell: Wer Stickrahmen zuhause hat, die er verschenken möchte, der könnte uns diese zum Beispiel beim Besuch einer Ausstellung oder postalisch zukommen lassen. Wir bedanken uns im Voraus für diese Spenden.

Stickerei von Rohgul

Beim Abschied erhielt ich noch eine zweite Bitte, die in einer ganz besonderen Form „verpackt“ war: Als Rohgul ihre zehn Kühe früh am Morgen überreichte, wurde ein „Zettel“ mitgeliefert, und zwar nicht aus Papier, sondern aus Stoff in Form eines gestickten Textes. Ihr Sohn hatte den Text direkt auf den Stoff geschrieben, doch sie meinte, er müsse noch gestickt werden.

Derartige gestickte Bittschreiben habe ich einige Male über die Jahre erhalten und mich dabei gefragt, warum die Frauen sich diese Mühe geben? Warum reicht es nicht aus, die Botschaft auf einem Papierstück zu vermitteln?

Folgende Erklärung habe ich für mich gefunden: Bei uns in Europa sind Papier und Stift allgegenwärtig, aber für die Analphabetinnen auf den Dörfern in Afghanistan sind diese Utensilien noch exotisch und womöglich auch nicht vertrauenswürdig. Stoffe (anstelle von Papier) und Fäden (anstelle von Kulis) sind für sie hingegen alltäglich und es ist nachvollziehbar, dass dieses Material deshalb als Kommunikationsmittel genutzt wird. Ist so ein „Zettel“ an die üblichen Stickereien angenäht, dann weiß die Stickerin, dass die Information mich sicher erreichen wird, während ein Papierstück schnell reißen und verloren gehen könnte.

Schon auf dem Dorf las eine junge Kollegin, die in die Schule geht, Rohguls „Schreiben“ vor: Sie sei arm, müsse unbedingt mit uns weiterarbeiten und bäte darum, mehr Arbeit zu bekommen. Darüber hinaus würde sie für mich beten.

Liebe Grüsse
Pascale

Rohguls Brief


COWandMORE ist eine Zusammenarbeit von vier Partnern:

  • DAI e.V. mit dem Stickprogramm Guldusi
  • MADEIRA Garne, der Sponsor vom Stickprogramm
  • Patchwork Gilde Deutschland e.V.
  • BERNINA international: Sie erhalten hier regelmässig Informationen zum Ausstellungsprojekt COWandMORE, einem Feuilleton ähnlich. Die Handstickereien lassen sich wunderbar maschinell weiterverarbeiten. BERNINA lädt herzlich zur Teilnahme bei COWandMORE ein!

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